Bücher im Gespräch

Episode 11: Unsterblichkeit

Episode 11: Unsterblichkeit

Tatjana Petzer spricht mit Martin Treml über die von ihr herausgegebene Anthologie »Unsterblichkeit. Slawische Variationen« (Berlin: Matthes & Seitz 2021).

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In den gegenwärtig hitzig geführten Diskussionen um Trans- und Posthumanismus ist das Thema Unsterblichkeit geradezu allgegenwärtig. Im Vordergrund stehen dabei zumeist US-amerikanische und westeuropäische Autoren und Konzepte, slawischsprachige Perspektiven sind außerhalb von Fachkreisen kaum bekannt. Dabei gibt es in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, Mittel- sowie Südosteuropas seit Ende des 19. Jahrhunderts lebhafte Diskussionen und Versuche, das menschliche Leben potentiell unendlich zu entgrenzen. Die von Tatjana Petzer herausgegebene Anthologie zu »slawischen Variationen« der Unsterblichkeit stellt eine Auswahl dieser Positionen teils in deutscher Erstübersetzung vor, in deren Zusammenschau über Landes- und Disziplinengrenzen hinweg Gemeinsamkeiten und Verflechtungen sichtbar werden.

Ist von Unsterblichkeit die Rede, sind metaphysische Überlegungen zum Nachleben häufig nicht weit. Die in der Anthologie versammelten Texte eint jedoch, dass sie Unsterblichkeit zuvorderst als physisches Phänomen betrachten, das mit den Mitteln der Naturwissenschaft erklärt bzw. erreicht werden kann. Biologen, Mediziner und Physiker, aber auch Schriftsteller und Publizisten entwickelten im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedene ›Unsterblichkeitstechniken‹, mit deren Hilfe sie den Tod zu überwinden hofften. Während der Physiker und Experimentalbiologe Porfiri Bachmetjew dabei auf die Anabiose, das Einfrieren des Organismus und sein Wiederauftauen bei günstigeren Bedingungen setzte, strebte die Kybernetik, im Band wissenschaftlich durch Tanju Kolew, in literarischer Form durch Stanisław Lem vertreten, eine Überwindung des biologischen Körpers mittels Informations- und Transplantationstechnik an.

In den literarischen Entwürfen Stanislav Vinavers und Andrej Platonows wiederum soll die Elektrizität den Tod besiegen, wie es auch in Lenins Ausspruch »Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des Landes« anklingt. Neben der individuellen stand im sowjetischen Diskurs stets auch die soziale Unsterblichkeit des Kollektivs zur Debatte, die ihre Form in der mit der russischen Revolution plötzlich erreichbar scheinenden kommunistischen Zukunftsgesellschaft neuer Menschen finden sollte. Deutlich tritt hier insbesondere bei Platonow die Spannung zutage, die sich zwischen dem befreienden Potenzial der Unsterblichkeit und der unendlichen Arbeit auftut, die mit ihr einhergehen kann.

Dem unsterblichen Körper droht jedoch nicht nur die unendliche Ausbeutung seiner Arbeitskraft, sondern auch unsägliche Langeweile, vom Immunologen Ilja Metschnikow auf den Begriff der Lebenssättigung gebracht. Juristische Probleme bleiben ebenso wenig aus: Gibt es eine Pflicht zu leben? Und wie steht es, ist der natürliche Tod einmal abgeschafft, um gegenwärtig umstrittene Fragen wie die von Suizid und Sterbehilfe?

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Die Literaturwissenschaftlerin und Slawistin Tatjana Petzer leitete am ZfL von 2010 bis 2021 als Dilthey-Fellow das Projekt »Wissensgeschichte der Synergie«. 2019 wurde sie an der Universität Zürich mit einer Arbeit zu Figurationen des Synergos in der slavischen Moderne habilitiert. Seit 2017 hatte sie mehrere Vertretungsprofessuren an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg inne. Der Religionswissenschaftler und Judaist Martin Treml ist seit 2000 am ZfL tätig, zuletzt mit dem Projekt »Aby Warburg und die Religionskulturen«. Seit September 2020 hat er eine DAAD-Gastprofessur für Religionskulturwissenschaft an der Staatlichen Ilia-Universität in Tbilissi inne.

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Episode 10: Politische Ökologie

Leander Scholz spricht mit Falko Schmieder (beide ZfL) über sein Buch »Die Regierung der Natur. Ökologie und politische Ordnung« (August Verlag 2022).

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Mit dem Aufkommen der politischen Ökologie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist eine Wende von einer anthropologischen zu einer ökologisch-terrestrischen Anschauung der Welt zu beobachten. An diesem Bewusstseinswandel interessiert Leander Scholz vor allem die Dialektik von Politisierung der Natur und Ökologisierung der Gesellschaft. Während durch die ökologische(n) Krise(n) immer mehr natürliche Faktoren zum Gegenstand von Politik werden, geht die Natur verstärkt in die Regierungspraxis ein und verändert damit den politischen Raum.

Dem Anthropos im epochenprägenden Bild der durch menschliche Arbeitskraft entstandenen ›Zweiten Natur‹ steht in der ökologisch-terrestrischen Epoche seine Dezentrierung gegenüber. Diese tritt besonders radikal in Bewegungen wie Earth First! zutage, bedeutet aber keineswegs ein Verschwinden des Menschen: Die posthumane Welt ist nicht antihuman, sondern der Mensch teilt sie sich mit anderen Lebewesen. Seine Aufgabe ist es nunmehr, die Reste der durch sein Verschulden sterbenden Natur zu verwalten.

Positiv interpretiert kann diese Überwindung der Sonderstellung des Menschen zu einem neuen Selbstverständnis und mit Latour gesprochen zur Anerkennung der Natur als gleichberechtigter politischer Akteurin führen. Wenn aber beispielsweise Naturentitäten mit einklagbaren Rechten ausgestattet werden, ergeben sich Stellvertretungsprobleme. Eine solche Ausweitung des Demokratiebegriffs stellt nicht nur eine Herausforderung von Positionen der politischen Philosophie (Arendt, Plessner) dar und riskiert, in menschlichen Bestimmungen verhaftet zu bleiben. Sie wirft vor allem die Frage ihrer praktischen Umsetzbarkeit auf. Eine Grundfrage unserer Gegenwart ist daher, ob die politische Ökologie letztlich nur der weiterhin dominierenden politischen Ökonomie einverleibt wird oder ob ein echter Paradigmenwechsel stattfindet. Fraglich ist auch, ob die Entwicklung des ökologischen Denkens nicht zu einer Naturalisierung des Sozialen führt, die historisch in ihren Extremfällen in Rassenkunde und Eugenik mündete.

Leander Scholz’ Rekapitulation der Geschichte der politischen Ökologie nimmt vor allem rechtskonservative Denker und Konzepte in den Blick, so zum Beispiel Friedrich Ratzels ›Lebensraum‹ oder Ernst Rudorff, an dessen Person die Entstehung des Konzepts Naturschutz im diskursiven Umfeld von Denkmal-, Brauchtums- und Heimatschutz illustriert werden kann. Die heute geläufige Wahrnehmung der Ökologiebewegung als links hat ihren Ursprung erst in der Fusion der ökologischen mit den neuen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit. Während ein Bewusstsein für die politische Geschichte des Konzepts für seine heutige Nutzbarmachung unabdingbar ist, geht es Scholz weniger um die Frage, ob die politische Ökologie eher ›linke‹ oder ›rechte‹ Kritik übt, sondern welches neue Paradigma mit ihr auftaucht, das die anthropozentrischen politischen Lagereinteilungen zuweilen durchbricht. In jedem Fall ist er sich sicher, dass die Entwicklung der politischen Ökologie zu einer deutlichen Veränderung im menschlichen Selbstverhältnis und Denken führt – fragt sich nur, ob diese rechtzeitig kommt.

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Der Philosoph und Schriftsteller Leander Scholz ist ZfL-Forschungsstipendiat im Programmbereich »Lebenswissen«. Er studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik in Bonn, Bochum, Paris und Köln, hat mehrere Romane veröffentlicht und ist Mitbegründer des Tropen Verlags sowie freier Mitarbeiter des Deutschlandfunks. 2012 wurde er mit einer Arbeit zu Todesobsessionen in der politischen Philosophie an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar habilitiert. Der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen«.

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Episode 9: Formfragen

Rabea Kleymann und Eva Geulen (beide ZfL) unterhalten sich über ihre Bücher »Formlose Form« (Wilhelm Fink 2021), »Aus dem Leben der Form« (Wallstein 2021) und »Formen des Ganzen« (Wallstein 2022).

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Die literaturtheoretischen und ästhetischen Diskurse des 20. Jahrhunderts waren von einer Haltung gegen die Form gekennzeichnet, sie privilegierten stattdessen Formabbau und Formlosigkeit. In letzter Zeit ist hingegen vermehrt von der Wiederkehr der Form die Rede. Im Gespräch gehen Rabea Kleymann und Eva Geulen diesem neu erwachten Interesse an Formfragen nach und nehmen die Gegenstände und heutigen Methoden der Formanalyse in den Blick.

Seinen Ausgang nimmt ihr Interesse an der Form bei Goethes »Heften zur Morphologie« und seinem literarischen Spätwerk, Texten, die in ihrer ungeordneten Gestalt geradezu ungoethisch wirken. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass auch das Formlose, beispielsweise als Aggregat, bei Goethe noch Form hat. Dass andersherum auch die Form stets formlose Züge trägt, wird mit Blick auf Goethes Praxis der Reihenbildung deutlich. Diese sorgt zwar einerseits für Ordnung, trägt andererseits aber auch dazu bei, vorschnelle Synthesen zu vermeiden. An der Reihe lässt sich zudem exemplarisch die im 18. Jahrhundert einsetzende Verzeitlichung des Formbegriffs nachvollziehen, mit der das antike Verständnis der Form als gegebener Größe verabschiedet wird.

Historische Beispiele wie das zyklische Geschichtsmodell eines Oswald Spengler zeigen wiederum, dass die Morphologie mit ihrem geschlossenen Formsystem, in dem jede Entwicklung im Keim bereits angelegt ist, letztlich ein konservatives Moment in sich trägt. Dass die an Ganzheit und Gesetzmäßigkeit orientierte Morphologie trotz alledem auch in den Verfahren des ihr vermeintlich entgegengesetzten, mit Differenzen operierenden Strukturalismus nachlebt, zeigt sich beispielhaft an Vladimir Propps Untersuchungen zum Märchen. Anhand dieser lässt sich auch der häufigen Reduktion von ›Form‹ auf bereits feststehende Form, und das heißt: Gattung, begegnen.

Im zweiten Teil des Gesprächs geht es darum, was gegenwärtige Ansätze und Verfahren zur Klärung der neu entdeckten Formfragen beitragen können. Während der New Formalism mit seinem Anliegen, Form als soziale Kategorie zu begreifen, Gefahr läuft, das Untersuchungsfeld zu nivellieren und dabei die Eigenheiten des Literarischen zu unterschlagen, stellt sich mit Blick auf die Digital Humanities die Frage, inwiefern deren quantifizierende Verfahren mehr sind als die bloße empirische Unterfütterung etablierten Formwissens. Leisten die Digital Humanities tatsächlich einen Beitrag zum Verständnis von Literatur und Kultur unter digitalen Bedingungen? Und können digitale Methoden und neue Formalismen bei der Neubestimmung verabschiedet geglaubter Formen wie der des Ganzen helfen, die in Zeiten von Globalisierung und Klimawandel eine Renaissance erleben?

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Die Literaturwissenschaftlerin Rabea Kleymann ist mit dem Projekt »Diffraktive Epistemik: Wissenskulturen der Digital Humanities« wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL und Vorstandsmitglied des Verbandes Digital Humanities im deutschsprachigen Raum (DHd). Sie promovierte 2020 an der Universität Hamburg zur »Epistemik und Poetik des Aggregats beim späten Goethe«. Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL und Professorin für europäische Kultur- und Wissensgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Am ZfL leitete sie unter anderem das Projekt »Zeit und Form im Wandel. Goethes Morphologie und ihr Nachleben in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts«.

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Episode 8: Adorno und das Glück

Pola Groß spricht mit Falko Schmieder (beide ZfL) über ihr Buch »Adornos Lächeln. Das ›Glück am Ästhetischen‹ in seinen literatur- und kulturtheoretischen Essays« (Berlin: De Gruyter 2020).

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In jüngster Zeit ist ein wiedererwachtes Interesse am Denken Theodor W. Adornos festzustellen, der dabei allerdings allzu häufig vorschnell zum Kulturpessimisten abgestempelt wird. In ihrer Lektüre versteht Pola Groß das seltene Lächeln des Philosophen hingegen als ein versöhnliches und zugewandtes, das die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, und zeigt auf, dass es Adorno letztlich doch immer ums Glück geht.
Adornos an Horkheimer orientierter politischer Glücksbegriff fasst individuelles und gesellschaftliches Glück als stets aufeinander verwiesen – das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts und der Erfahrung der Shoah, die für Adorno die Realisierungsmöglichkeiten gesamtgesellschaftlichen Glücks zunichte gemacht haben, kann ein besseres und gerechteres Leben jedoch nur noch in der Kunst antizipiert werden. Entgegen dem häufig gegen ihn erhobenen Vorwurf des Elitarismus zeigen Adornos Ausführungen zu Zirkus, Feuerwerk, Trickfilm und Kitsch, dass gerade die ›leichten Künste‹ für ihn die Möglichkeit bieten, in der jähen ästhetischen Erfahrung sich selbst zu vergessen und so dem Glück ein Stück weit näherzukommen.
Adornos kunstkritische Essays sind dabei auch als Interventionen in die Debatten seiner Zeit zu verstehen, so beispielsweise als Kritik an den Diskursen von Schuldabweisung, »Neuanfang« und Vergessen nach Auschwitz. Die Beschäftigung mit ihnen kommt somit nicht ohne eine kritische Historisierung aus, wie sie Adorno selbst zum Beispiel für den Mythos betreibt. Auch seine Betrachtungen einzelner Kunstwerke verfahren historisch-kritisch und situieren diese stets in einer Gegenwart, die er mit Benjamin als von Vergangenem und Zukünftigem durchdrungen auffasst.
Erst in dieser historischen Perspektive erklärt sich, warum die von Chaplin und in Hašeks »Soldaten Schwejk« angewandten Verfahren der Ironisierung für Adorno nach Auschwitz obsolet geworden sind und wie eine ›rettende Kritik‹ dennoch die glücksversprechenden Potentiale einzelner Werke offenlegen kann. Diese Kritik zielt auch auf das ›falsche Glück‹, das eine Versöhnung vorgibt, wo keine möglich ist. Adorno setzt dem das in den Werken Becketts, Helms’ und Celans aufscheinende ›echte Glück‹ entgegen, das sich stets am aufgehobenen Leid entfalte. Im Anschluss daran stellt sich die Frage nach der geschichtsphilosophischen Dimension von Adornos Überlegungen zum Glück: Handelt es sich bei seiner Hinwendung von politischen zu ästhetischen Fragen um eine Resignation vor der Geschichte oder eine Rettung der Utopie vor der Vereinnahmung? Und welche Zugänge und Perspektiven bieten uns Adornos literatur- und kulturtheoretische Schriften heute?

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Die Literaturwissenschaftlerin Pola Groß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin mit dem Projekt »Stil und Kitsch um 1900« und im Projekt »Stil. Geschichte und Gegenwart« am ZfL. Sie promovierte 2018 an der Universität Köln mit einer Arbeit zum ›Glück am Ästhetischen‹ bei Adorno. Der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen«.

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Episode 7: Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung

Moritz Neuffer und Barbara Picht (beide ZfL) unterhalten sich über kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung, Neuffers Buch »Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift ›alternative‹ 1958–1982« (Göttingen: Wallstein 2021) und den Versuch, »mit den Mitteln einer Zeitschrift in die Verhältnisse ihrer Zeit einzugreifen«.

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Es gibt zwei Arten, sich als Historiker*in mit Zeitschriften zu beschäftigen: In der historischen Quellenarbeit mit Zeitschriften steht das Interesse an deren Inhalten im Vordergrund. Die Forschung über Zeitschriften dagegen nimmt das Medium selbst und die spezifischen Formen des Publizierens in Zeitschriften in den Blick. Am Beispiel der alternative, einer der wichtigsten Theoriezeitschriften der westdeutschen Neuen Linken, zeigt Moritz Neuffer, wie sich diese Perspektiven miteinander verbinden lassen und untersucht das Verhältnis und die Wechselwirkung von Theoriearbeit und Zeitschriftenmachen.

Die Zeitschriftenprojekte der Zeit um 1968 werden von den an ihnen Beteiligten als Orte der Bildung und Selbstbildung verstanden, was im Fall der alternative auch mit einem ausgeprägten Interesse an der zeitgenössischen Literatur der DDR einherging. Spätestens mit der Übernahme des Herausgeberinnenpostens durch Hildegard Brenner 1964 stand in der alternative jedoch die Beschäftigung mit Theorie im Vordergrund, genauer mit dem westlichen Marxismus, Strukturalismus, Literatursoziologie und feministischer Theorie.

Die kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung zeigt, dass diese Theoriearbeit nicht jenseits des Mediums verstanden werden kann, in dem sie stattfindet. Nicht nur erlauben Periodizität und geringerer Institutionalisierungsgrad eine schnelle Einmischung in aktuelle Debatten. Mit den journalistischen Mitteln der Auswahl, des Zusammenschnitts und der Pointierung wurde in der alternative eine doppelte Übersetzungsarbeit geleistet, die u.a. die neuen Theorien des französischen Strukturalismus einem deutschsprachigen Publikum erschloss.

Zeitschriften sind stets auch Orte der Selbstverständigung über den Zustand und die Zukunft der politischen Bewegung. Für die alternative lässt sich dies exemplarisch anhand der Krise des Marxismus nach ’68 und der Hinwendung zur feministischen Psychoanalyse Mitte der 1970er Jahre zeigen. Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenerforschung kann somit einen Beitrag zum Verständnis des Verhältnisses zwischen dem Denken und den politischen Bewegungen einer Zeit leisten. Die Rekonstruktion der Konjunktur des Theoriebegriffs am Beispiel der alternative steht dabei mit Forschungen im Dialog, die anhand von Leseerfahrungen (Raulff) oder einzelnen Verlagsprogrammen (Felsch, Paul) nachvollziehen, wie sich ›Theorie‹ ab den 1960er Jahren zu einer eigenständigen Gattung entwickelte.

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Der Historiker und Kulturwissenschaftler Moritz Neuffer erforscht am ZfL das persönliche Archiv der Germanistin, Publizistin und Kulturhistorikerin Hildegard Brenner. Von 2017 bis 2019 war er mit dem Projekt »Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift ›alternative‹ (1958–1982)« Doktorand am ZfL. Barbara Picht ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur politisch-sozialen und kulturellen Semantik in Deutschland«. 2020 habilitierte sie sich mit einer Arbeit zu Zeitdeutungen in den französischen, deutschen und polnischen Geschichts- und Literaturwissenschaften. Beide sind Mitglieder im Arbeitskreis Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung.

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Episode 6: Übergänglichkeit der Natur

Hanna Hamel (ZfL) spricht mit Oliver Grill (LMU) über ihr Buch »Übergängliche Natur. Kant, Herder, Goethe und die Gegenwart des Klimas« (Berlin: August Verlag 2021).

In ihrem Buch »Übergängliche Natur« versucht Hanna Hamel zu klären, was sich unter übergänglicher Natur verstehen lässt. Dabei legt sie nicht nur das aufklärerische Erbe zeitgenössischer Positionen offen, sondern lenkt den Blick vor allem dorthin, wo das Verhältnis von Natur und Kultur in den Texten des 18. Jahrhunderts – entgegen der gängigen Lesart von deren strikter Trennung – als ein ineinander verschlungenes erscheint.

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Im Gespräch mit Oliver Grill – Autor von »Die Wetterseiten der Literatur. Poetologische Konstellationen und meteorologische Kontexte im 19. Jahrhundert« (Paderborn: Wilhelm Fink 2019) – erweist sich Goethes Witterungslehre als besonders prägnanter Ort, an dem sich das vermeintlich beständige Klima und das wechselhafte Wetter begegnen. Beider Anliegen ist es, durch ein Recycling des historischen Theoriefundus und eine kritische Distanznahme zur ethischen Aufladung der Diskurse um Klima und Wetter im Anthropozän Räume und Wege für ein notwendiges Umdenken zu schaffen.

Liest man mit Hamel die drei Kritiken Immanuel Kants im Zusammenspiel mit seiner Anthropologie wird beispielsweise deutlich, dass der Mensch bei ihm viel stärker lokalisiert ist, als gemeinhin angenommen. Auch Kants Erkenntnistheorie erhält somit einen historischen Index, worin eine überraschende Nachbarschaft zur Begriffsarbeit Bruno Latours aufscheint. Johann Gottfried Herders ästhetische Anthropologie und Timothy Mortons ökologische Schriften eint wiederum die zentrale Stellung, die in ihnen der Ästhetik als Schlüssel zu Natur und Umgebung zukommt, in Bezug auf die Rezeption ebenso wie hinsichtlich der gestalterischen Möglichkeiten des Menschen. Als vermittelnder Dritter zwischen begrifflich trennenden und ästhetisierend-analogisierenden Verfahren erscheint Johann Wolfgang von Goethe, der in einer paradoxen Wendung den Begriff des Übergänglichen für das prägte, was sich begrifflich gerade nicht fassen lässt.

Mit Goethe lässt sich die Natur in Gestalt des Wetters jedoch noch auf andere Weise als eine ›übergängliche‹ betrachten. So begreift Oliver Grill die »Wetterlaunen« als paradigmatische Orte einer wechselseitigen Übertragung naturhaft-objektiven Geschehens und emotionaler Gehalte. Hinsichtlich der sozialen Funktion der Rede übers Wetter tritt schließlich eine deutliche Differenz heutiger Wetter- und Klimadiskurse zu denen um 1800 zutage: Durch deren ethische Aufladung verliert das Wetter seinen Status als »Nullwert der Sprache« (Schleiermacher) und bringt uns in Erzählprobleme. Im Anthropozän stellt sich mit Latour vielmehr die politische Frage, wo wir in der Beschäftigung mit dem Klima stehen.

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Die Philosophin und Literaturwissenschaftlerin Hanna Hamel leitet das Projekt »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur« am ZfL. Von 2017 bis 2019 war sie mit dem Projekt »Klimatologien der beginnenden Moderne« Doktorandin am ZfL. Der Literaturwissenschaftler Oliver Grill ist seit 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der DFG-Forschergruppe »Philologie des Abenteuers« an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2017 promovierte er dort mit einer Arbeit zur »Poetik des Wetters von Goethe bis Fontane«. Oliver Grill war im Herbst 2021 zu Gast am ZfL.

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Episode 5: Chor

In ihren aktuellen Büchern »Chor-Denken« (Paderborn: Wilhelm Fink 2020) und »Chor und Theorie« (Konstanz: KUP 2021) nähern sich Sebastian Kirsch (ZfL) und Maria Kuberg (Universität Konstanz) dem Verhältnis von Chor und Denken bzw. Theorie einmal aus theater-, einmal aus literaturwissenschaftlicher Perspektive.

Fluchtpunkt aller europäischen Verhandlungen des Chorischen ist die antike Tragödie mit ihrer Gegenüberstellung von skene und orchestra, von Protagonist und Chor. Während Sebastian Kirsch die antiken Texte durch die Brille des späten Foucault liest, wählt Maria Kuberg einen historisierenden Ansatz und betrachtet den antiken Chor »through our German eyes« (Simon Goldhill). Deutlich wird dabei, dass Aneignungen des Chors nie geradlinig, sondern stets historisch gebrochen verlaufen.

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Gemeinsam ist beiden Ansätzen das Anliegen, den Irrtum auszuräumen, dass der Chor in einer dualistischen Ordnung dem Protagonisten gegenübersteht. Er muss vielmehr als Kippfigur zwischen Figuration und Defiguration begriffen werden, in antiken Begriffen als Vertreter des Kosmos, der vor der Reduktion auf die Sphären von Oikos und Polis selbstverständlicher Teil der griechischen Welt war.
In verschiedenen Formen des Chorischen können somit unterschiedliche Formen der Gemeinschaft mit ihren Ein- und Ausschlüssen sowie Totalisierungsgefahren durchexerziert werden. Ebenso erlauben sie es, weltumspannende Phänomene wie Klimakrise, Flüchtlingszüge und Pandemie zu verhandeln, die sich nicht in den binären Oppositionen von Lokalem und Globalem oder Eigenem und Fremdem verstehen lassen.

In den von Maria Kuberg untersuchten Theatertexten zeigt sich, dass der Chor aufs Engste mit der Theorie verbunden ist, deren nichtanschaulichen Inhalten er Sichtbarkeit verleihen kann. Nicht zufällig gehen die Krise der Anschauungslogiken und die emphatische Wiederentdeckung des Chors an der Wende zum 20. Jahrhundert miteinander einher. Chor und Anschauung hängen aber noch auf andere Weise miteinander zusammen. Durch Rückgriff auf somatische Konzepte des Denkens zeigt Sebastian Kirsch, was sie mit den Sorgeschulen der Kyniker, Epikureer und Stoiker gemein haben und warum wir uns diese eher als chorische Philosophiebanden vorstellen sollten denn als strenge Akademien.

Diese Neuverortung des Chors mag nicht zuletzt dazu beitragen, dessen Prominenz im postdramatischen Theater besser zu verstehen, das insbesondere nach dem Verblassen bestimmter Utopien von Gemeinschaft nach 1989 das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem, Individuum und Gesellschaft verhandelt.

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Der Theaterwissenschaftler Sebastian Kirsch ist mit dem Projekt »Umgebungswissen der Theatermoderne. Milieu – Umwelt – Environment / Hauptmann – Appia – Kiesler Feodor« Lynen-Forschungsstipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung am ZfL. Er wurde 2018 in Bochum für das Fach Theaterwissenschaft habilitiert. Die Literaturwissenschaftlerin Maria Kuberg ist akademische Mitarbeiterin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Konstanz. Am ZfL arbeitete sie zuletzt von 2018–2019 an dem Projekt »Einheit und Vielfalt. Epospoetiken des Späthumanismus und der Frühaufklärung«. Zuvor war sie mit dem Projekt »Der Chor. Theorie-Theater-Texte von Heiner Müller bis René Pollesch« Doktorandin am ZfL.

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Episode 4: Selbstübersetzung

Karine Winkelvoss (Universität Rouen) und Stefan Willer (HU) sprechen über »W. G. Sebald, l’économie du pathos« (Paris: Classiques Garnier 2021) und »Selbstübersetzung als Wissenstransfer« (Berlin: Kulturverlag Kadmos 2020).

Karine Winkelvoss und Stefan Willer sprechen – auch anhand eigener Erfahrungen – über die Selbstübersetzung als Thema und Modus literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Während der von Stefan Willer und Andreas Keller herausgegebene Band »Selbstübersetzung als Wissenstransfer« das Thema in historischer Perspektive beleuchtet, erlebt Karine Winkelvoss die Herausforderungen der Selbstübersetzung bei ihren Forschungen zur »Poetik der Pathosformel« bei W. G. Sebald am eigenen Leib.

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Was bedeutet es, germanistische Themen in einer Fremdsprache zu bearbeiten? Und was nützt die reizvolle und erkenntnisfördernde Differenz zwischen Objekt- und Metasprache, wenn französischsprachige Germanistik im deutschsprachigen Raum letztlich nicht rezipiert wird? Vor allem aber: Steht am Ende der Selbstübersetzung wirklich eine Übersetzung und nicht viel eher ein neues Original?

Ausgehend von diesen Fragen wird der Trugschluss diskutiert, dass die Identität von Autor*in und Übersetzer*in größtmögliche Deckung zwischen Original und Übersetzung gewährleiste. Vielmehr bietet die Übersetzung eigener Texte größere Freiheiten als die fremder, indem sie ein stetiges Um- und Andersschreiben der eigenen Gedanken erlaubt. Aus Selbstübersetzung wird so Selbstexperiment, in dem sich das schreibende Ich in ein anderes übersetzt, das sich je nach Kontext neu verorten muss.

Das geschieht mal freiwillig, meist jedoch aus Notwendigkeit. Interessant wird es besonders dann, wenn in der Selbstübersetzung die hegemoniale Wissenschaftssprache verlassen wird, wie bei Luther das Lateinische oder bei den Gebrüdern Humboldt das Französische. Umgekehrt ist gerade in der heutigen globalisierten Wissen(schaft)slandschaft ein Zwang zum Forschen und Schreiben in der ›Leitsprache‹ festzustellen, die als reine ›Arbeitssprache‹ vermeintlich neutrales Kommunikationsmedium ist.

Bei den untersuchten und selbst erprobten Selbstübersetzungen rückt jedoch gerade die sprachliche Verfasstheit und damit verbundene Sprachabhängigkeit allen Wissens in den Vordergrund. Denn mit einem Sprach- geht oftmals ein Registerwechsel einher, ein Übergang in eine andere Wissenskultur und mit ihm ein Wissenstransfer.

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Die Germanistin Karine Winkelvoss lehrt an der Universität Rouen. Von 2015–2018 war sie mit dem Projekt »Poetik der Pathosformel. Beitrag zu einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft« Forschungsstipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung am ZfL. Stefan Willer ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2010–2018 war er stellvertretender Direktor des ZfL, wo er unter anderem das Forschungsprojekt »Übersetzungen im Wissenstransfer« leitete.

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Episode 3: Seuchenjahr

Henning Trüper (ZfL) spricht mit Christoph Paret (Uni Wien) über sein Buch »Seuchenjahr« (Berlin: August Verlag 2021).

In einem 96-teiligen Langessay unternimmt der Historiker Henning Trüper den Versuch, Ordnung ins pandemische Geschehen zu bringen. Mit dem Philosophen Christoph Paret spricht er über die Verwandtschaft von Phobie und Theorie, die Bedingungen und Möglichkeiten politischen und moralischen Handelns in Zeiten von Lockdown, Unsicherheit und Unsouveränität sowie die Geschichtsschreibung als Form der Totenfürsorge.
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Einer von Lukian überlieferten Erzählung zufolge kam es in der Stadt Abdera in Thrakien einst zum Ausbruch einer Seuche, die alle Abderit*innen nur noch in Versen sprechen und sich als Figuren einer Tragödie verstehen ließ. In der Überlieferung über Wieland zu Kant gewinnt die Satire ernsthaftes Gewicht. Als Einsicht in die Sinnlosigkeit der Verhältnisse und die menschliche Ohnmacht, den Gang der Geschichte zu beeinflussen, wird der »Abderitismus« zu einer von drei möglichen Positionen ihr gegenüber.

Während Kant diesem Fatalismus noch optimistisch die Hoffnung auf eine Verbesserung der Verhältnisse entgegensetzt, stellt sich für Adorno realistisch betrachtet nur noch die Wahl zwischen moralischem Terrorismus und der mäßig beruhigenden Einsicht, in einer sinnlosen Welt zu leben.

Henning Trüper interessiert sich für die Frage, ob sich ausgehend von einzelnen Symptomen – Geschichtszeichen im kantischen Sinn –, dennoch Aussagen über das große Ganze treffen lassen und inwiefern sich hier eine Möglichkeit zur Rehabilitation der Geschichtsphilosophie auf dem Feld der Moral eröffnet.

Das pandemische Geschehen scheint dabei mehr und mehr Adornos »Minima Moralia« zu bestätigen, worüber sich letztlich eine Brücke von den humanitären Dilemmata, vor die uns COVID stellt, zur paradoxen Situation des Humanitarismus überhaupt schlagen lässt, dessen Rettungsaktionen stets die Schaffung stabiler und eindeutiger Entscheidungssituationen gegenüber einem sinnlos erscheinenden Geschehen verlangen.

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Henning Trüper ist Historiker und leitet das ERC-Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800« am ZfL. Der Philosoph Christoph Paret ist Universitätsassistent an der Universität Wien. 2019 war er mit dem Projekt »Hans Blumenbergs Variationen auf das Ende der Theorie« wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL.

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Episode 2: Klassiker des russischen und sowjetischen Films

Barbara Wurm (HU Berlin) spricht mit Matthias Schwartz (ZfL) über »Klassiker des russichen und sowjetischen Films«, Bd. 1 & 2 (Marburg: Schüren 2020).

»Für uns ist der Film die wichtigste aller Künste«, teilte Lenin 1922 seinem Volkskommissar für Bildungswesen, Anatolij Lunačarskij, mit. Und so nimmt es nicht Wunder, dass das neue Medium in der Sowjetunion so stark gefördert und subventioniert wurde wie kaum irgendwo sonst. Das Resultat ist eine schier unüberschaubare Fülle an Filmen verschiedenster Genres. Die in zwei Bänden beim Schüren-Verlag erschienenen »Klassiker des russischen und sowjetischen Films« stellen insgesamt 44 davon vor – über die Schwierigkeiten der Auswahl, Einordnung und Bewertung sprechen die Herausgeber*innen des zweiten Bands, Barbara Wurm und Matthias Schwartz, miteinander.

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Was macht einen Klassiker eigentlich zum Klassiker? Und was ist das besondere eines russischen oder sowjetischen Klassikers? Oder anders gefragt: Inwiefern hat das sowjetische Kulturdenken zur Etablierung dieser Kategorie beigetragen? Und was heißt überhaupt »sowjetisch«? Barbara Wurm und Matthias Schwartz verwenden diesen Begriff zunächst ganz pragmatisch-deskriptiv – bemerken jedoch, dass er in den letzten Jahrzehnten im innerrussischen Diskurs zunehmend von der mindestens ebenso diskussionswürdigen Kategorie des ›Vaterländischen‹ überschrieben wird.
Vor dem Hintergrund der seit 2010 verstärkt festzustellenden Rebürokratisierung der russischen Kulturproduktion mit dem Ziel ihrer Dienstbarmachung für gouvernementale Zwecke wird klar: Die Geschichte des Films und der Kultur im Allgemeinen muss stets auch als (kultur-)politische Geschichte betrachtet werden – und manchmal neigen wir in der Rückschau zur Vereinfachung.

So wird der undifferenzierte Vorwurf des »Propagandistischen« der Vielfalt des russischsprachigen Kinos mit seiner über hundertjährigen Geschichte nicht gerecht. Dazu gehören die Filme der weltweit Kultstatus genießenden Meister Ėjzenštejn und Tarkovskij, der Cannes-Gewinner »Die Kraniche ziehen« von Kalatozov, aber auch Werke, die im Westen kaum Beachtung fanden: Rjazanovs »Ironie des Schicksals« zum Beispiel, der noch immer bei keinem russischen Neujahrsfest fehlen darf, oder Danelias Kultfilm »Kin-dsa-dsa!«. Mit Werken Muratovas und Askol’dovs gehören zu den »Klassikern« schließlich auch ›Schubladenfilme‹, die erst nach dem Ende der Sowjetunion einem breiteren Publikum zugänglich wurden.

Fazit: Erst durch die Verabschiedung der monolithischen Vorstellung einer ausschließlich über Zentralismus und Zensur operierenden sowjetischen Kulturproduktion entsteht ein differenziertes Bild des russischsprachigen Kinos. Erst dann wird beispielsweise die Zeitlosigkeit der Überlegungen zur Gewalt in Klimovs »Komm und sieh« sichtbar. Diese diskutieren Barbara Wurm und Matthias Schwartz ebenso wie die Frage, warum es eigentlich kein sowjetisches »Star Wars« gibt.

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Die Slawistin Barbara Wurm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slawistik und Hungarologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie promovierte 2017 zum sowjetischen Kulturfilm. Matthias Schwartz ist Slawist und Leiter des Programmbereichs Weltliteratur des ZfL, an dem sein Projekt »Weltfiktionen post/sozialistisch« angesiedelt ist.

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