Bücher im Gespräch

Episode 7: Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung

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Moritz Neuffer und Barbara Picht (beide ZfL) unterhalten sich über kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung, Neuffers Buch Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift ›alternative‹ 1958–1982 (Göttingen: Wallstein 2021) und den Versuch, »mit den Mitteln einer Zeitschrift in die Verhältnisse ihrer Zeit einzugreifen«.

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Es gibt zwei Arten, sich als Historiker*in mit Zeitschriften zu beschäftigen: In der historischen Quellenarbeit mit Zeitschriften steht das Interesse an deren Inhalten im Vordergrund. Die Forschung über Zeitschriften dagegen nimmt das Medium selbst und die spezifischen Formen des Publizierens in Zeitschriften in den Blick. Am Beispiel der alternative, einer der wichtigsten Theoriezeitschriften der westdeutschen Neuen Linken, zeigt Moritz Neuffer, wie sich diese Perspektiven miteinander verbinden lassen und untersucht das Verhältnis und die Wechselwirkung von Theoriearbeit und Zeitschriftenmachen.

Die Zeitschriftenprojekte der Zeit um 1968 werden von den an ihnen Beteiligten als Orte der Bildung und Selbstbildung verstanden, was im Fall der alternative auch mit einem ausgeprägten Interesse an der zeitgenössischen Literatur der DDR einherging. Spätestens mit der Übernahme des Herausgeberinnenpostens durch Hildegard Brenner 1964 stand in der alternative jedoch die Beschäftigung mit Theorie im Vordergrund, genauer mit dem westlichen Marxismus, Strukturalismus, Literatursoziologie und feministischer Theorie.

Die kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung zeigt, dass diese Theoriearbeit nicht jenseits des Mediums verstanden werden kann, in dem sie stattfindet. Nicht nur erlauben Periodizität und geringerer Institutionalisierungsgrad eine schnelle Einmischung in aktuelle Debatten. Mit den journalistischen Mitteln der Auswahl, des Zusammenschnitts und der Pointierung wurde in der alternative eine doppelte Übersetzungsarbeit geleistet, die u.a. die neuen Theorien des französischen Strukturalismus einem deutschsprachigen Publikum erschloss.

Zeitschriften sind stets auch Orte der Selbstverständigung über den Zustand und die Zukunft der politischen Bewegung. Für die alternative lässt sich dies exemplarisch anhand der Krise des Marxismus nach ’68 und der Hinwendung zur feministischen Psychoanalyse Mitte der 1970er Jahre zeigen. Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenerforschung kann somit einen Beitrag zum Verständnis des Verhältnisses zwischen dem Denken und den politischen Bewegungen einer Zeit leisten. Die Rekonstruktion der Konjunktur des Theoriebegriffs am Beispiel der alternative steht dabei mit Forschungen im Dialog, die anhand von Leseerfahrungen (Raulff) oder einzelnen Verlagsprogrammen (Felsch, Paul) nachvollziehen, wie sich ›Theorie‹ ab den 1960er Jahren zu einer eigenständigen Gattung entwickelte.

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Der Historiker und Kulturwissenschaftler Moritz Neuffer erforscht am ZfL das persönliche Archiv der Germanistin, Publizistin und Kulturhistorikerin Hildegard Brenner. Von 2017 bis 2019 war er mit dem Projekt Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift »alternative« (1958–1982) Doktorand am ZfL. Barbara Picht ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur politisch-sozialen und kulturellen Semantik in Deutschland. 2020 habilitierte sie sich mit einer Arbeit zu Zeitdeutungen in den französischen, deutschen und polnischen Geschichts- und Literaturwissenschaften. Beide sind Mitglieder im Arbeitskreis Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung.


www.zfl-berlin.org

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Die Bücher:

Moritz Neuffer: Die journalistische Form der Theorie. Die Zeitschrift ›alternative‹ 1958–1982. Göttingen: Wallstein 2021

Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 45.1–2 (2020), Themenschwerpunkt: Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Zeitschriftenforschung, betreut von Moritz Neuffer, Barbara Picht und Anke Jaspers

Weiterführende Literatur:

alternative. zeitschrift für literatur und diskussion 19.108/109 (1976) = das lächeln der medusa – frauenbewegung, sprache, psychoanalyse. texte von hélène cixous, cathérine clément, luce irigaray, jacques lacan, u.a.

Hannah Arendt: Walter Benjamin (I), in: Merkur 238 (1938), 50–65

Patrick Eiden-Offe/Moritz Neuffer: Was ist und was will kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung?, in: ZfL Blog, 19.11.2018

Eurozine: Dossier Worlds of Cultural Journals

Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990. München: Beck 2015

Helmut Lethen: Rez. zu: Rolf Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins, Frankfurt a.M. 1965, in: alternative 46 (1966), 38–40

Moritz Neuffer: Prekäre Theorie, oder: Wer ist Hildegard Brenner?, in: ZfL Blog, 14.1.2021

Morten Paul: Suhrkamp Theorie. Eine Buchreihe im philosophischen Nachkrieg. Leipzig: Spector Books 2022

Ulrich Raulff: Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens. Stuttgart: Klett-Cotta 2014


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