Bücher im Gespräch

Episode 19: Dokumentarische Ästhetiken

Episode 19: Dokumentarische Ästhetiken

Matthias Schwartz (ZfL) und Clemens Günther (FU Berlin) sprechen über den Band »Documentary Aesthetics in the Long 1960s in Eastern Europe and Beyond« (Brill 2024). Sie betrachten literarische Formen wie Memoiren, Gerichtsprotokolle und Reiseberichte, aber auch das dokumentarische Theater, neue Spielarten des Dokumentarfilms und Konzeptkunst in Ost- und Westeuropa sowie den USA.

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Während in unserem ›postfaktischen‹ Zeitalter radikale Skepsis gegenüber den (sozialen) Medien herrscht, begeisterten sich in den 1960ern viele für die von neuen technischen Geräten wie der Handkamera gebotenen Möglichkeiten, die ›Wahrheit‹ einzufangen. In den Staaten Osteuropas stellten dokumentarische Schreibformen einen Bruch mit den totalisierenden Tendenzen des sozialistischen Realismus dar und erlaubten es, Zeugnis von der stalinistischen Gewaltherrschaft abzulegen, wie es Warlam Schalamow in seinen Schriften über den Gulag tat. Zeitgleich fand Peter Weiss mit seinem dokumentarischen Theater in Westdeutschland Wege zur Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.

Anders als häufig angenommen nahmen Künstler:innen in den sozialistischen Staaten regen Anteil an der globalen künstlerischen Entwicklung. Unter den Bedingungen des Tauwetters wurden Werke von Truman Capote, Weiss und anderen westlichen Schriftsteller:innen ins Polnische, Russische oder Tschechische übersetzt und die gemeinsame künstlerische Praxis reflektiert. Im Gegensatz zum Dokumentarismus der 1920er Jahre, der als ›literatura fakta‹ oder Neue Sachlichkeit programmatische Gestalt annahm, lassen sich die dokumentarischen Tendenzen der 1960er jedoch auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Während die avantgardistischen Vorläufer ein instrumentelles Verhältnis zum Dokumentarischen als Mittel zur Belehrung des Neuen Menschen pflegten, dominierte in den 1960ern ein Verständnis des Dokuments als Artefakt und Beweis, dem mit kritischer Distanz begegnet wurde. An dieser Ambivalenz des Dokumentarischen, das Objektivität verspricht und gleichzeitig Ergebnis und Mittel der politischen und künstlerischen Arbeit mit Fakten ist, zeigt sich sein Potential, die vermeintlich starre Opposition von Fakt und Fiktion ins Wanken zu bringen. So kommt etwa in der Autobiographie Aleksandra Brushteins und den Reportagen Ryszard Kapuścińskis allegorischen Erzählweisen dokumentarische Evidenz zu, da sie Möglichkeitsräume zur Verhandlung tabuisierter Aspekte der Gegenwart eröffnen.

Die Beschäftigung mit früheren Dokumentarismen macht die komplexen Genealogien heute vielerorts wieder zum Einsatz kommender dokumentarischer Verfahren sichtbar. Das gilt zum Beispiel für die in den 1960er Jahren diskutierte Frage nach den Möglichkeiten ästhetischen Ausdrucks und künstlerischer Intervention in autoritäre Regime des Sprechens und Verschweigens, so wie sie Alexijewitsch in ihrer dokumentarischen Prosa immer wieder vorgeführt hat. Diese Schreibverfahren bekommen derzeit in Ländern wie Russland oder Belarus wieder eine bedrückende Aktualität. In der zeitgenössischen ukrainischen Kunst sind es hingegen häufig dokumentarische Darstellungsweisen, mit denen traumatische Kriegsereignisse zur Sprache gebracht werden.

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Der Slawist und Historiker Matthias Schwartz ist Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur am ZfL. Dort leitet er die Projekte »Weltfiktionen post/sozialistisch. Literaturen und Kulturen aus Osteuropa« und »Anpassung und Radikalisierung. Dynamiken der Populärkultur(en) im östlichen Europa vor dem Krieg«. Der Slawist Clemens Günther ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der FU Berlin. Dort promovierte er 2019 mit einer Arbeit zu Problematisierungen historischer Erkenntnis in der russischen Gegenwartsliteratur. Er ist Mitglied im DFG-Netzwerk »Russian Ecospheres. Forms of Ecological Knowledge in Russian Literature, Culture and History«.

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Episode 18: Stellvertretung

Katrin Trüstedt spricht mit Oliver Precht (beide ZfL) über ihr Buch »Stellvertretung. Zur Szene der Person« (Konstanz University Press 2022). Entlang literarischer Beispiele beleuchten sie die Figur der Stellvertretung, die unser gesellschaftliches und politisches Leben prägt und in gegenwärtigen Debatten um die Rechte der Natur neue Aktualität gewinnt.

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Was heißt es, für andere zu sprechen und zu handeln – und was geschieht mit einem selbst, wenn andere für einen sprechen und handeln? Die Ambivalenz stellvertretenden Sprechens besteht darin, dass es bestimmten Stimmen und Geschichten oft überhaupt erst Gehör verschafft, aber auch die Gefahr der Bevormundung in sich birgt. Juristische und philosophische Betrachtungen neigen dazu, über diesen Widerspruch hinwegzusehen oder ihn einseitig aufzulösen. In der Literatur hingegen werden nicht nur die Paradoxien der politischen und rechtlichen Stellvertretung ausgelotet. Selbst auf Formen stellvertretender Rede angewiesen, reflektiert sie stets auch die eigenen Möglichkeiten, Figuren zum Sprechen zu bringen.

Paradigmatisches Beispiel dafür ist die »Orestie«, die Katrin Trüstedt als Urszene von Recht, Literatur und Theater und mithin der Stellvertretung selbst identifiziert. Die Ablösung der Gerechtigkeit der Rache durch die Gerechtigkeit des Rechts in Aischylos’ Tragödie wird oft als ein Ereignis der Emanzipation erzählt, bei dem sich der Mensch vor Gericht und auf dem Theater den anderen Menschen offenbart. Ein genauer Blick zeigt jedoch, dass der Held Orest auf göttlichen Beistand durch Apoll angewiesen ist, der in den entscheidenden Momenten Fürsprache leistet.

Diese antike rhetorische Kunst der Fürsprache oder Synegoria wird in der Neuzeit von der Stellvertretung als Wesenszug des Subjekts abgelöst. Spätestens seit Hobbes bedeutet ›Person sein‹ vertretbar sein durch den Leviathan. Während Stellvertretung somit einerseits zur Bedingung für das In-Erscheinung-Treten der Person wird, steht sie andererseits vermehrt im Verdacht, zu täuschen und zu verstellen. In Shakespeares »The Tempest« beispielsweise erfährt das Publikum die Geschichte in den Worten der Person, die zuvor diejenigen, von denen sie erzählt, gewaltsam unterjocht und versklavt hat.

Um 1800 erlangt die Frage, wer für wen spricht, schließlich handfeste juristische Bedeutung. Schriftliche Verhandlungen und Vernehmungen hinter verschlossenen Türen werden im Strafprozess vom unverstellten Sprechen vor dem Richter abgelöst. In der Literatur werden solch vermeintlich eindeutige Verfahren als scheinheilig entlarvt. Hoffte Schiller noch, durch die genaue Beobachtung von Gerichtsprozessen einen unverstellten Blick ins Menschenherz zu erhaschen, unterläuft der moderne Roman einen solchen Anspruch und die hinter ihm stehende Ideologie der Unmittelbarkeit. Die bereits von Kafka und Joyce aufgeworfene Frage, wer oder was im stellvertretenden Sprechen eigentlich vertreten wird, stellt sich letztlich in verschärfter Form, wenn politisch darüber verhandelt wird, wie für Akteure einzutreten ist, die nicht oder nur eingeschränkt für sich selbst sprechen und handeln können. Wer steht für die Interessen von Entrechteten, Staatenlosen und Geflüchteten ein? Und wer spricht für zukünftige Generationen, für die Umwelt und für Tiere?

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Die Literaturwissenschaftlerin Katrin Trüstedt ist Ko-Leiterin des Programmbereichs Theoriegeschichte am ZfL und forscht dort zur »Politik des Erscheinens«. Zuvor hatte sie Positionen als Assistant Professor of Germanic Languages & Literatures an der Yale University sowie als Juniorprofessorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Erfurt inne. Der Philosoph Oliver Precht ist mit dem Projekt »Marx in Frankreich. Die Selbstbestimmung der französischen Theorie (1945–1995)« wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL. 2019 promovierte er mit einer Arbeit zur Selbst- und Fremdbestimmung von Heideggers Philosophie an der Ludwig-Maximilians Universität München.

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Episode 17: Postdigitale Literatur

Hanna Hamel (ZfL) und Eva Stubenrauch (Humboldt-Universität zu Berlin) unterhalten sich über den Band »Wie postdigital schreiben? Neue Verfahren der Gegenwartsliteratur« (transcript 2023). Dabei sprechen sie unter anderem darüber, was das Postdigitale ist und welche historischen Vorläufer gegenwärtige Schreibverfahren haben.

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Die Gegenwartsliteratur wird häufig aus literatursoziologischer Perspektive untersucht. Richtet man den Fokus hingegen auf ihre Verfahren, können Phänomene erfasst werden, die sich den dominanten praxeologischen Zugriffen entziehen. Welchen Einfluss hat beispielsweise die praktisch-technische Vorentscheidung für das Schreibwerkzeug – Stift oder ChatGPT – auf die ästhetische Form? Hat das Digitale wirklich zu qualitativen Veränderungen im Schreibprozess geführt? Und wenn ja, was zeichnet unsere heutige postdigitale Situation aus?

Das Konzept des Postdigitalen stammt ursprünglich aus der elektronischen Musik und beschreibt die Situation nach der Digitalisierung, in der das Digitale alle Lebensbereiche erfasst hat. Aber handelt es sich dabei wirklich um einen radikalen Bruch mit dem Vorhergegangenen? Sicher ist, dass digitale Räume die Literatur vor neue Herausforderungen stellen, wenn beispielsweise über Plattformen wie Twitter Schreibende dem unmittelbaren Feedback durch ihre Leser*innen ausgesetzt sind. In den neuesten Diskussionen um Künstliche Intelligenz und die vermeintliche Konkurrenz zwischen Mensch und Maschine kehren gleichzeitig totgeglaubte Kategorien wie Autor und Werk in literaturwissenschaftliche und -kritische Diskurse zurück.

Unter dem Eindruck dieser Umwälzungen produziert die Literaturwissenschaft immer neue Ordnungsmodelle. Sie unterscheidet zwischen ›artifizieller‹ und ›postartifizieller‹ Literatur (Bajohr) oder solcher, die einer vermeintlich traditionellen Erzählweise verpflichtet bleibt, und solcher, die ihre eigenen Produktionsbedingungen ausstellt. Letzterer wird dabei schnell das Label der ›angemessenen Literatur für das 21. Jahrhundert‹ verpasst. Die Beiträge des Sammelbands hinterfragen vorschnelle normative Setzungen. Sie betrachten bestimmte Verfahren der Gegenwartsliteratur in ihrer historischen Entwicklung und stellen Verbindungen zu Vorläufern wie Schema- und Popliteratur her. Dabei zeigt sich unter anderem, dass die oft als Merkmal des Postdigitalen hervorgehobene Allianz zwischen Theoretisierung und Praxis der Literatur so neu nicht ist. Vielmehr zeichnen sich schon Literaturphänomene der Moderne wie die Konkrete Poesie oder avantgardistische ›Fehlerpoetiken‹ durch eine Reflexion auf die eigene Textualität und ihre medialen und technischen Einflüsse aus.

Metareflexive Tendenzen weist auch ein Genre auf, das selten der ambitionierten Literatur zugerechnet wird: die Fanfiction. Gerade die in Teilen der Community geführten Diskussionen um den Kanon sind jedoch höchst anschlussfähig für literaturwissenschaftliche Debatten. Stellt sich doch mit Blick auf die unendlichen genealogischen Schneisen, die sich in literarischen Texten ausmachen lassen, und ihre intertextuellen Bezüge die Frage, ob nicht die gesamte Literaturgeschichte als Fanfiction zu betrachten ist.

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Die Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Hanna Hamel leitet das Projekt »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur« am ZfL. Von 2017 bis 2019 war sie mit dem Projekt »Klimatologien der beginnenden Moderne« Doktorandin am ZfL. Die Literaturwissenschaftlerin Eva Stubenrauch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie war von 2021–2023 mit dem Projekt »Die Einverleibung der Innovation. Theorie- und Literaturwissenschaftsgeschichte eines Strukturmoments (1870/1970)« wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL.

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Episode 16: Nach der Erinnerung

Matthias Schwartz (ZfL) und Heike Winkel (Bundeszentrale für politische Bildung) unterhalten sich über ihren gemeinsam mit Nina Weller (ZfL) herausgegebenen Band »After Memory. World War II in Contemporary Eastern European Literatures« (de Gruyter 2021). In ihrem Gespräch ergründen sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Erinnerungskulturen in West- und Osteuropa.

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Um die Jahrtausendwende gab es einen regelrechten Boom der Erinnerungsliteratur, der von einer vertieften wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung flankiert wurde. Ausgehend von den Gegebenheiten in Westeuropa etablierte sich der von Maurice Halbwachs geprägte Begriff des kollektiven Gedächtnisses. Aber lässt sich dieses Modell, das von einer ungebrochenen staatlichen und generationellen Kontinuität ausgeht, auf die postsozialistische Situation in Osteuropa übertragen? Diese kann in zweierlei Hinsicht als eine ›nach der Erinnerung‹ beschrieben werden, denn sie folgte auf die offizielle sozialistische Erinnerungskultur, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer ›Bruderstaaten‹ ein jähes Ende fand, sowie auf eine lange Zeit des verpassten innerfamiliären Gesprächs über die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs.

Anders als in Westeuropa, wo das Gedenken an den Holocaust im Zentrum der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg stand, überlagern sich in den osteuropäischen Erinnerungskulturen verschiedene Gegenstände der Erinnerung. Die Beschäftigung mit NS-Vernichtungskrieg einerseits und stalinistischer Gewaltherrschaft andererseits kreist dabei häufig um die Frage, was es heißt, Opfer beider Systeme zu sein. Während die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch für den westlichen Erinnerungsdiskurs eine nahezu ungebrochene affektive Identifikation als Opfer oder Nachkomme der Opfer des Zweiten Weltkriegs festgestellt hat, betont Ernst van Alphen in seinem Beitrag zum Sammelband die Unmöglichkeit einer positiven Identifikation mit der Rolle als Volksverräter, die den Opfern der Gulags vom Staat zugeschrieben wurde.

Immer wieder wird die Doppelrolle als Opfer und Täter verhandelt, die in Diskussionen wie um Stepan Bandera in der Ukraine oder die polnische »Heimatarmee« eine große Aktualität hat. In den Romanen von Radka Denemarková und Szczepan Twardoch beispielsweise widersetzen sich die gewöhnlichen Held*innen den von außen an die Literatur herangetragenen Forderungen, moralische Vorbilder zu liefern oder nationale Narrative zu bedienen. Ein umfassender Blick auf die literarische Landschaft Osteuropas zeigt allerdings auch, dass Literatur keineswegs immer ein Medium der kritischen Distanz ist. Mitunter wird sie im Sinne revisionistischer Aneignungen genutzt, um zu vereinfachen und nationalistische Diskurse mitzugestalten. Auf dem Gebiet der alternativen Geschichte und der Konstruktion heroischer Männlichkeiten ist diese Komplizenschaft im Falle Russlands heute besonders offensichtlich. Die in fast allen osteuropäischen Gesellschaften zunehmende nostalgische Verklärung der Vergangenheit und der eigenen Rolle im Zweiten Weltkrieg schließlich kann als Folge einer durch staatliche Zensur und gesellschaftliche Tabus verzerrten Erinnerung interpretiert werden, die die Vergangenheit leichter affektiv besetzbar und für politische Zwecke mobilisierbar macht.

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Die Slawistin Heike Winkel ist Referentin in der Projektgruppe Mittel-, Ost- und Südosteuropa bei der bpb. Zuvor arbeitete sie als Koordinatorin des Projekts »Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene und Internierte« beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und war von 2004 bis 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin. Der Slawist und Historiker Matthias Schwartz ist stellvertretender Direktor des ZfL und Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur. Dort leitet er die Projekte »Weltfiktionen post/sozialistisch« und »Anpassung und Radikalisierung«.

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Episode 15: Europäische Denker im Kalten Krieg

Barbara Picht und Moritz Neuffer (beide ZfL) unterhalten sich ausgehend von Barbara Pichts Buch »Die ›Interpreten Europas‹ und der Kalte Krieg« (Wallstein 2022) über die Selbsterforschung europäischer Intellektueller der Nachkriegsjahrzehnte. Was hat die veränderte Weltlage nach dem Zweiten Weltkrieg für diejenigen bedeutet, die sich von Berufs wegen mit der kulturellen, sprachlichen und wissenschaftlichen Entwicklung von Gesellschaften befassen?

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Unser Bild der Nachkriegszeit ist geprägt von der Metapher des Kalten Krieges. Umso erstaunlicher ist es, dass diese in den von Barbara Picht untersuchten Schriften von Oskar Halecki und Czesław Miłosz (Polen, aus dem US-Exil schreibend), Fernand Braudel und Robert Minder (Frankreich), Walter Markov und Werner Krauss (DDR) sowie Werner Conze und Ernst Robert Curtius (BRD) kaum eine Rolle spielt. Gemeinsam ist den ideologisch teils weit voneinander entfernten Historikern und Literaturwissenschaftlern, dass sich ihr Denken der Logik der Blockkonfrontation entzieht. Stattdessen arbeiten sie an einer historischen Tiefenverortung der europäischen Gegenwart, in der Zweiter Weltkrieg und Kalter Krieg Verschärfungen einer europäischen Krise sind, die für sie bereits mit dem Ersten Weltkrieg einsetzte.

Über gemeinsame Referenzautoren – von T.S. Eliot über Ortega y Gasset bis Toynbee – treten die Autoren in ein Gespräch miteinander, das sowohl reale als auch Phantomgrenzen übersteigt und das auch der Eiserne Vorhang nicht ganz unterbinden kann. Besonders deutlich wird das mit Blick auf Ostmitteleuropa, dem in der zweigeteilten Logik des Kalten Kriegs lediglich die Rolle einer Pufferzone zwischen den Blöcken zukam. Der sich selbst als historischer Diplomat verstehende Historiker Halecki hingegen nutzte den Fundus der ostmitteleuropäischen Geschichte und schlug vor, die 200 Jahre währende Jagiellonische Union als Vorbild für einen neuen Völkerbund zu betrachten – eine Idee, die auch heute noch ungewohnt wirken mag.

Während der fast ausschließliche Fokus auf Europa manchen heutigen Leser*innen Unbehagen bereitet, plädiert Barbara Picht dafür, den Blick zu schärfen für durchaus vorhandene globalgeschichtliche Ansätze bei Braudel und Markov, der ausgehend von den Befreiungsbestrebungen in den Kolonien an einer vergleichenden globalen Revolutionshistoriografie arbeitete. Als öffentliche Intellektuelle sahen aber alle untersuchten Autoren ihre Aufgabe darin, zu einer Selbstbesinnung Europas beizutragen. Und auch jene von ihnen, die das politische Parkett nicht so offensiv nutzten, wirkten wie Curtius und Minder im Feld der Literaturkritik gezielt gegenwartsbeeinflussend und alles andere als apolitisch. Ob sie dabei jenseits der institutionellen Zwänge, die sich aus der Logik des Kalten Krieges ergaben, von politischer Seite in Dienst genommen oder gar instrumentalisiert wurden, bleibt kritisch zu betrachten.

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Barbara Picht ist Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur politisch-sozialen und kulturellen Semantik in Deutschland«. Gemeinsam mit Kerstin Schoor hat sie am Axel Springer-Lehrstuhl für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) das Harald von Troschke-Archiv eingerichtet, das die Interviews, die der Journalist Harald von Troschke in den 1960er bis 1980er Jahren mit zahlreichen Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik, Film, Theater, Musik und Literatur führte, digital verfügbar macht. Der Historiker und Kulturwissenschaftler Moritz Neuffer erforscht am ZfL das persönliche Archiv der Germanistin, Publizistin und Kulturhistorikerin Hildegard Brenner. Beide sind Mitglieder im Arbeitskreis Kulturwissenschaftliche Zeitschriftenforschung.

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Episode 14: Stil

Pola Groß und Claude Haas sprechen über die von ihnen mitherausgegebenen Bände »Neue Nachbarschaften: Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur« und »Der Stil der Literaturwissenschaft«.

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Wer in der Literaturwissenschaft vom Stil spricht, ist schnell mit dem Vorwurf des Elitismus konfrontiert, denn Stilanalysen stehen unter dem Verdacht, rein werkimmanent und damit realitätsfern zu sein. Dem steht eine anhaltende Beschäftigung mit Stilgemeinschaften und Lebensstilen in der Soziologie gegenüber. In einer ›Gesellschaft der Singularitäten‹, wie sie Andreas Reckwitz beschreibt, gilt der Stil als letzte Form sozialen Zusammenhalts. Als Begriff, der Ästhetik, Handlung und Haltung vereint, erweist sich Stil nicht nur als relevant für das Verständnis gesellschaftlicher Prozesse, sondern auch als eine Größe, die eine genauere Verortung von Schreibenden und ihren Texten erlaubt.

In »Neue Nachbarschaften: Stil und Social Media in der Gegenwartsliteratur« nehmen Pola Groß und Hanna Hamel die sogenannte postdigitale Literatur in den Blick. In der Nachfolge der Popliteratur verweigern Autoren wie Joshua Groß einfache Identifikationsangebote in Bezug auf Herkunft, Klasse oder Lifestyle. Durch die Verwendung stilistischer Marker wie Glitches stellen sie außerdem ein Bewusstsein für die veränderten Bedingungen des Schreibens nach der Digitalisierung aus. Während die einen Groß & Co. schlechten (Schreib-)Stil attestieren, erkennen andere in ihren Texten eine Sensibilität für die Gegenwart, die im Gegensatz zum gehobenen Stil etwa eines Daniel Kehlmann der postdigitalen Realität gerecht wird.

Aber sind Glitches im Text und die Übernahme von Schreibverfahren aus den sozialen Medien bereits subversiv? Oder affirmieren sie nur, was ohnehin schon zirkuliert? Die Autor*innen der Anthologie »Mindstate Malibu« jedenfalls beanspruchen, mit Stilmitteln wie Hyperironie und Überaffirmation das bestehende (Sprach-)System von innen zu sprengen. Und bei der Lektüre von Romanen wie »Flexen in Miami« oder »Eurotrash« ahnen manche Leser*innen gar einen utopischen Überschuss, wo andere nur postironischen Sarkasmus lesen. Auch letzterer wäre stilistischer Ausdruck einer Haltung zur Welt, wie sie – im Sinne einer Lebenseinstellung – jede und jeder einzunehmen gezwungen ist. Besonders deutlich zeigt sich das in den sozialen Medien mit ihrem permanenten Druck, sich ethisch, politisch oder über die Wahl eines Lifestyles verhalten zu müssen.

Die Einsicht, dass man dem Stil nicht entkommen kann, ist allerdings alles andere als neu. Schon Adorno konstatierte einen Zwang zum Stil, und Ludwik Flecks Überlegungen zu Denkstil und Denkkollektiven machen deutlich, dass auch in der vermeintlich objektiven Wissenschaft der Sprachgebrauch und die Zugehörigkeit zu bestimmten Stilgemeinschaften maßgeblich mitbestimmen, was und wie gedacht werden kann. Gerade die Literaturwissenschaft bietet sich, wie Claude Haas und Eva Geulen in »Der Stil der Literaturwissenschaft« zeigen, aber noch aus einem anderen Grund für eine stilistische Betrachtung an. Denn deutlicher als in anderen Geisteswissenschaften stellt sich hier die Frage, wie viel vom Stil des untersuchten Werks auf den der Forschenden abfärben darf.

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Die Literaturwissenschaftlerin Pola Groß war von 2015–2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Universität zu Köln, wo sie 2018 mit einer Arbeit zum ›Glück am Ästhetischen‹ bei Adorno promovierte. Derzeit forscht sie gemeinsam mit dem Germanisten und Komparatisten Claude Haas im Schwerpunktprojekt »Stil. Geschichte und Gegenwart« am ZfL. Haas ist Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur am ZfL und arbeitete dort unter anderem in einem Projekt zur »Theoriebildung im Medium von Wissenschaftskritik«. Im Wintersemester 2022/23 und Sommersemester 2023 hat er eine Vertretungsprofessur an der Universität Konstanz inne.

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Episode 13: Stimme, Klang, Musik

Frauke Fitzner und Denise Reimann sprechen über ihre Bücher »Der hörende Mensch in der Moderne. Medialität des Musikhörens um 1900« (Göttingen: Wallstein 2021) und »Auftakte der Bioakustik. Zur Wissensgeschichte nichtmenschlicher Stimmen um 1800 und 1900« (Berlin/Boston: de Gruyter 2022).

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Beide Autorinnen nehmen Phänomene aus dem Bereich der Sound Studies in den Blick, denen in den Sattelzeiten um 1800 und um 1900 verstärkte Aufmerksamkeit zuteilwurde. Während Frauke Fitzner nachvollzieht, wie sich mit dem Aufkommen moderner Reproduktionstechniken um 1900 ein neues Verständnis von Musik als Produkt menschlicher Wahrnehmung etablierte, beobachtet Denise Reimann, wie diese Reproduktionstechniken einen neuen Zugang zu nichtmenschlichen Stimmen eröffneten und dabei die sicher geglaubten Grenzen des Menschlichen infrage stellten.

Ihre Erkundungen haben Fitzner und Reimann auch ins Phonogramm- sowie Laut-Archiv der Berliner Humboldt-Universität geführt. Deren Bestände stellen historisch Forschende vor methodische Herausforderungen, denn viele der Aufnahmen sind unter kolonialen Bedingungen oder in Kriegsgefangenschaft entstanden. Häufig sind die Tondokumente zudem nicht hinreichend kontextualisiert und es bleibt im Dunkeln, zu welchem Zweck die Aufzeichnung erfolgte. Bei ihrer Erschließung hat sich ein kulturwissenschaftlicher Ansatz als fruchtbar erwiesen, Quellen aus verschiedenen kulturellen und Wissensbereichen zusammenzubringen und mithilfe genauer Betrachtungen konkreter Schauplätze übergreifende Entwicklungen zu veranschaulichen. Einer dieser Schauplätze ist das Phonogramm-Archiv selbst, an dem sich unter Leitung des langjährigen Direktors Erich Moritz von Hornbostel die Disziplin der vergleichenden Musikwissenschaft herausbildete – eine Entwicklung, die ohne das durch den Phonographen bereitgestellte mediale Dispositiv nicht denkbar gewesen wäre.

Beide Bücher zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine wissenschaftshistorische mit einer literaturwissenschaftlichen Sicht auf die Quellen verbinden. So kann beispielsweise der Rückgriff der Naturkundler des frühen 19. und 20. Jahrhunderts auf literarisch-poetische Verfahren bei der Beschreibung von Tierstimmen als Strategie verstanden werden, die ungewohnten Klänge sprachlich einzuhegen. Die ironischen Wendungen in den Texten des Psychologen und Musikforschers Carl Stumpf wiederum fungieren als sprachliche Markierung epistemischer Grenzen. Gerade durch die philologische Untersuchung der Schriftdokumente lässt sich erahnen, wie der Phonograph als Medium den Forschenden buchstäblich die Ohren für die Sprach- und Musikwelten außereuropäischer Kulturen sowie für Geräuschwelten jenseits der menschlichen Artikulation öffnete.

Dass diese Veränderungen im Verhältnis zum Hören und zur Stimme eine lange Vorgeschichte haben, die schon weit vor dieser Medialisierung einsetzte, zeigt das Beispiel des Arztes und Anatomen Antoine Ferrein. Dieser führte bereits 1741 Versuche zur künstlichen Stimmerzeugung an toten Stimmorganen durch – ein unheimlicher Vorläufer späterer ›Sprechmaschinen‹ und Speichermedien, der zugleich auf das Problem der ›Unhörbarkeit der Vergangenheit‹ verweist, mit der jede historische Forschung konfrontiert ist.

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Frauke Fitzner ist Literatur- und Musikwissenschaftlerin und Geschäftsleiterin der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie München. Von 2011 bis 2013 war sie ZfL-Promotionsstipendiatin mit dem Projekt »Der hörende Mensch in der Moderne. Medialisierung und Anthropologisierung in Konzeptionen von Musik um 1900«. Die Kulturwissenschaftlerin Denise Reimann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur und Koordinatorin der Mosse Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2014 bis 2016 war sie ZfL-Promotionsstipendiatin mit dem Projekt »Schwellenszenen der Stimme. Zur Vorgeschichte der Bioakustik zwischen Wissenschaft, Medientechnik und Literatur um 1800 und 1900«.

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Episode 12: Warlam Schalamow – Biographie und Poetik

Franziska Thun-Hohenstein spricht mit Stefan Willer über ihre Warlam Schalamow-Biographie »Das Leben schreiben« und den von Gabriele Leupold übersetzten Briefband »Ich kann keine Briefe schreiben« (beide Berlin: Matthes & Seitz 2022). Einleitend erzählt Andreas Rötzer, Verleger von Matthes & Seitz, wie er auf den Autor Schalamow gestoßen ist und welche Bedeutung dieser für den Verlag hat.

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Der 1907 im nordwestrussischen Wologda geborene Warlam Schalamow führte ein Leben zwischen den Extremen. Sowohl der Schriftsteller als auch die historische Figur Schalamow stellen seine Biographin dabei vor Herausforderungen: Wie erzählt man das Leben eines ehemaligen Lagerhäftlings, wenn doch im Lager, so Schalamow selbst, nur Menschen ohne Biographie agieren? Wie geht man damit um, wenn die Person, deren Leben erzählt werden soll, die biographische Form radikal ablehnt? Und wie berichtet man über Ereignisse und Zeiträume, wenn Archivmaterial und andere Quellen vernichtet wurden?

Franziska Thun-Hohenstein versucht gar nicht erst, die Brüche in Schalamows Biographie zu glätten und in eine lineare Erzählung zu überführen. Stattdessen zieht sie zur Dokumentation der Lagerjahre die Untersuchungsakten des NKWD heran, die die Einheitlichkeit des biographischen Narrativs im Buch typographisch wie sprachlich durchbrechen. Aus den Erinnerungen seiner Zeitgenoss*innen an den berühmt-berüchtigten ›Mandelstam-Abend‹ wiederum tritt nicht nur die wahrgenommene Diskrepanz zwischen Schalamows Redetalent und seinem zerbrechlichen Körper zutage. Zusammen mit der im Briefband veröffentlichten umfangreichen Korrespondenz (mit Boris Pasternak, Nadeshda Mandelstam, Aleksandr Solshenizyn und anderen) ergibt sich das Gesamtbild eines widersprüchlichen Charakters, das ein Gegengewicht zu dem sich allmählich herausbildenden Schalamow-Kult zu bilden vermag. Denn die von Gabriele Leupold übersetzten Briefe geben nicht nur Einblicke ins Moskau der Nachkriegsjahrzehnte, sie zeichnen auch ein Bild von Schalamows Selbstdarstellung zwischen Selbstironie und schriftstellerischem Geltungsbedürfnis.

Als Literaturwissenschaftlerin untersucht Thun-Hohenstein in der Biographie, wie Schalamow über sich selbst schreibt, auf welche Traditionen und Mythen er sich beruft und welcher literarischer Verfahren er sich bedient. Aus den Erzählungen über seine Jugendzeit tritt einem beispielsweise der mythische russische Untergrundmensch des 19. Jahrhunderts entgegen, der alles Persönliche hinter sich lässt und sich ganz dem revolutionären Kampf für die Freiheit des Volkes widmet. Diese Revolutionsbegeisterung, die den 17-jährigen Schalamow nach Moskau geführt hatte, fand in seiner Faszination für die Avantgarde Ausdruck. Die Begegnung mit deren Vertretern war für ihn jedoch enttäuschend, schienen sie doch den unbedingten Glauben an das poetische Wort, den Schalamow noch im Lager beibehielt, nicht zu teilen. Die Fähigkeit, das Durchlebte in Sprache zu fassen, war für ihn Gegenstück zur drohenden Auflösung des Menschen im Lager und letztlich Beweis für den Sieg des Lebens über den Tod. Trotz seiner wiederholt betonten Areligiosität beharrte er auf der Fähigkeit des ›lebendigen Wortes‹ zur Auferweckung der Toten.

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Die Slawistin Franziska Thun-Hohenstein ist Herausgeberin der Werkausgabe Warlam Schalamows im Verlag Matthes & Seitz und Senior Fellow am ZfL, an dem sie von 1996 bis 2020 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Von 2008 bis 2015 leitete sie den Forschungsbereich »Plurale Kulturen Europas« und forschte am ZfL unter anderem zu Figurationen des Nationalen im Sowjetimperium und zur Kulturellen Semantik der Schwarzmeerregion. Stefan Willer ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2010–2018 war er stellvertretender Direktor des ZfL.

Gespräch und Lesung wurden am 9.11.2022 im Berliner Haus für Poesie aufgezeichnet.

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Episode 11: Unsterblichkeit

Tatjana Petzer spricht mit Martin Treml über die von ihr herausgegebene Anthologie »Unsterblichkeit. Slawische Variationen« (Berlin: Matthes & Seitz 2021).

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In den gegenwärtig hitzig geführten Diskussionen um Trans- und Posthumanismus ist das Thema Unsterblichkeit geradezu allgegenwärtig. Im Vordergrund stehen dabei zumeist US-amerikanische und westeuropäische Autoren und Konzepte, slawischsprachige Perspektiven sind außerhalb von Fachkreisen kaum bekannt. Dabei gibt es in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, Mittel- sowie Südosteuropas seit Ende des 19. Jahrhunderts lebhafte Diskussionen und Versuche, das menschliche Leben potentiell unendlich zu entgrenzen. Die von Tatjana Petzer herausgegebene Anthologie zu »slawischen Variationen« der Unsterblichkeit stellt eine Auswahl dieser Positionen teils in deutscher Erstübersetzung vor, in deren Zusammenschau über Landes- und Disziplinengrenzen hinweg Gemeinsamkeiten und Verflechtungen sichtbar werden.

Ist von Unsterblichkeit die Rede, sind metaphysische Überlegungen zum Nachleben häufig nicht weit. Die in der Anthologie versammelten Texte eint jedoch, dass sie Unsterblichkeit zuvorderst als physisches Phänomen betrachten, das mit den Mitteln der Naturwissenschaft erklärt bzw. erreicht werden kann. Biologen, Mediziner und Physiker, aber auch Schriftsteller und Publizisten entwickelten im Laufe des 20. Jahrhunderts verschiedene ›Unsterblichkeitstechniken‹, mit deren Hilfe sie den Tod zu überwinden hofften. Während der Physiker und Experimentalbiologe Porfiri Bachmetjew dabei auf die Anabiose, das Einfrieren des Organismus und sein Wiederauftauen bei günstigeren Bedingungen setzte, strebte die Kybernetik, im Band wissenschaftlich durch Tanju Kolew, in literarischer Form durch Stanisław Lem vertreten, eine Überwindung des biologischen Körpers mittels Informations- und Transplantationstechnik an.

In den literarischen Entwürfen Stanislav Vinavers und Andrej Platonows wiederum soll die Elektrizität den Tod besiegen, wie es auch in Lenins Ausspruch »Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des Landes« anklingt. Neben der individuellen stand im sowjetischen Diskurs stets auch die soziale Unsterblichkeit des Kollektivs zur Debatte, die ihre Form in der mit der russischen Revolution plötzlich erreichbar scheinenden kommunistischen Zukunftsgesellschaft neuer Menschen finden sollte. Deutlich tritt hier insbesondere bei Platonow die Spannung zutage, die sich zwischen dem befreienden Potenzial der Unsterblichkeit und der unendlichen Arbeit auftut, die mit ihr einhergehen kann.

Dem unsterblichen Körper droht jedoch nicht nur die unendliche Ausbeutung seiner Arbeitskraft, sondern auch unsägliche Langeweile, vom Immunologen Ilja Metschnikow auf den Begriff der Lebenssättigung gebracht. Juristische Probleme bleiben ebenso wenig aus: Gibt es eine Pflicht zu leben? Und wie steht es, ist der natürliche Tod einmal abgeschafft, um gegenwärtig umstrittene Fragen wie die von Suizid und Sterbehilfe?

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Die Literaturwissenschaftlerin und Slawistin Tatjana Petzer leitete am ZfL von 2010 bis 2021 als Dilthey-Fellow das Projekt »Wissensgeschichte der Synergie«. 2019 wurde sie an der Universität Zürich mit einer Arbeit zu Figurationen des Synergos in der slavischen Moderne habilitiert. Seit 2017 hatte sie mehrere Vertretungsprofessuren an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg inne. Der Religionswissenschaftler und Judaist Martin Treml ist seit 2000 am ZfL tätig, zuletzt mit dem Projekt »Aby Warburg und die Religionskulturen«. Seit September 2020 hat er eine DAAD-Gastprofessur für Religionskulturwissenschaft an der Staatlichen Ilia-Universität in Tbilissi inne.

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Episode 10: Politische Ökologie

Leander Scholz spricht mit Falko Schmieder (beide ZfL) über sein Buch »Die Regierung der Natur. Ökologie und politische Ordnung« (August Verlag 2022).

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Mit dem Aufkommen der politischen Ökologie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist eine Wende von einer anthropologischen zu einer ökologisch-terrestrischen Anschauung der Welt zu beobachten. An diesem Bewusstseinswandel interessiert Leander Scholz vor allem die Dialektik von Politisierung der Natur und Ökologisierung der Gesellschaft. Während durch die ökologische(n) Krise(n) immer mehr natürliche Faktoren zum Gegenstand von Politik werden, geht die Natur verstärkt in die Regierungspraxis ein und verändert damit den politischen Raum.

Dem Anthropos im epochenprägenden Bild der durch menschliche Arbeitskraft entstandenen ›Zweiten Natur‹ steht in der ökologisch-terrestrischen Epoche seine Dezentrierung gegenüber. Diese tritt besonders radikal in Bewegungen wie Earth First! zutage, bedeutet aber keineswegs ein Verschwinden des Menschen: Die posthumane Welt ist nicht antihuman, sondern der Mensch teilt sie sich mit anderen Lebewesen. Seine Aufgabe ist es nunmehr, die Reste der durch sein Verschulden sterbenden Natur zu verwalten.

Positiv interpretiert kann diese Überwindung der Sonderstellung des Menschen zu einem neuen Selbstverständnis und mit Latour gesprochen zur Anerkennung der Natur als gleichberechtigter politischer Akteurin führen. Wenn aber beispielsweise Naturentitäten mit einklagbaren Rechten ausgestattet werden, ergeben sich Stellvertretungsprobleme. Eine solche Ausweitung des Demokratiebegriffs stellt nicht nur eine Herausforderung von Positionen der politischen Philosophie (Arendt, Plessner) dar und riskiert, in menschlichen Bestimmungen verhaftet zu bleiben. Sie wirft vor allem die Frage ihrer praktischen Umsetzbarkeit auf. Eine Grundfrage unserer Gegenwart ist daher, ob die politische Ökologie letztlich nur der weiterhin dominierenden politischen Ökonomie einverleibt wird oder ob ein echter Paradigmenwechsel stattfindet. Fraglich ist auch, ob die Entwicklung des ökologischen Denkens nicht zu einer Naturalisierung des Sozialen führt, die historisch in ihren Extremfällen in Rassenkunde und Eugenik mündete.

Leander Scholz’ Rekapitulation der Geschichte der politischen Ökologie nimmt vor allem rechtskonservative Denker und Konzepte in den Blick, so zum Beispiel Friedrich Ratzels ›Lebensraum‹ oder Ernst Rudorff, an dessen Person die Entstehung des Konzepts Naturschutz im diskursiven Umfeld von Denkmal-, Brauchtums- und Heimatschutz illustriert werden kann. Die heute geläufige Wahrnehmung der Ökologiebewegung als links hat ihren Ursprung erst in der Fusion der ökologischen mit den neuen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit. Während ein Bewusstsein für die politische Geschichte des Konzepts für seine heutige Nutzbarmachung unabdingbar ist, geht es Scholz weniger um die Frage, ob die politische Ökologie eher ›linke‹ oder ›rechte‹ Kritik übt, sondern welches neue Paradigma mit ihr auftaucht, das die anthropozentrischen politischen Lagereinteilungen zuweilen durchbricht. In jedem Fall ist er sich sicher, dass die Entwicklung der politischen Ökologie zu einer deutlichen Veränderung im menschlichen Selbstverhältnis und Denken führt – fragt sich nur, ob diese rechtzeitig kommt.

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Der Philosoph und Schriftsteller Leander Scholz ist ZfL-Forschungsstipendiat im Programmbereich »Lebenswissen«. Er studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik in Bonn, Bochum, Paris und Köln, hat mehrere Romane veröffentlicht und ist Mitbegründer des Tropen Verlags sowie freier Mitarbeiter des Deutschlandfunks. 2012 wurde er mit einer Arbeit zu Todesobsessionen in der politischen Philosophie an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar habilitiert. Der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen«.

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