Episode 25: Historizität und Historisierung
Henning Trüper spricht mit Falko Schmieder über sein Buch Unsterbliche Werte. Über Historizität und Historisierung (Wallstein 2024). Darin setzt er sich mit elementaren geschichtsphilosophischen Kategorien und Methoden auseinander und unterzieht die Geschichtswissenschaft einer grundlegenden Kritik. Denn diese, so seine Diagnose, ist nicht nur, wie schon Koselleck befand, theorie-, sondern auch therapiebedürftig.
————————
Die Debatten um das Ende der Geschichte (Fukuyama) und die breite Gegenwart (Gumbrecht), aber auch die als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgerufene ›Zeitenwende‹ machen deutlich, wie umkämpft das Feld der Geschichte ist. Dass die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Disziplin nicht neu ist, zeigt die Kritik am Fortschrittsnarrativ der Geschichtsphilosophie.
Auch Henning Trüper versteht Geschichte nicht als progressiven Lernprozess, sondern zeichnet nach, welche teils widersprüchlichen Antworten zu verschiedenen Zeiten auf die Frage gegeben wurden, was Geschichtlichkeit ist. Die Kritische Theorie hat Geschichtlichkeit vor allem im Sinne der Veränderlichkeit von Denkformen und Begriffen verstanden. Trüpers Interesse gilt demgegenüber den Praktiken des Historisierens: Mit welchem Ziel wird Vergangenes zu Geschichtlichem erklärt und als solches erinnert, welchen Ereignissen wird historischer Wert beigemessen und warum?
Diese Wertsetzungen sind stets veränderlich und folgen bestimmten Motivationen, wie bereits Nietzsches Unterscheidung verschiedener Arten von Historisierung in der zweiten »Unzeitgemäßen Betrachtung« zeigt. Wann und wie aber erhalten diese flüchtigen Werte den Charakter von ›unsterblichen Werten‹, also von moralischen Normen? Und in welchem Verhältnis zur Geschichte stehen vermeintliche Nebensachen wie Moral, Humanitarismus oder auch naturgeschichtliche und philosophische Diskurse über das Aussterben?
Ein Blick auf die Textgestalt und die Funktion von Intertextualität in der Geschichte hilft, sich diesen Fragen zu nähern. Die Neulektüre geschichtswissenschaftlicher Klassiker und deren Kombination mit unbekannten, in Vergessenheit geratenen Texten und Autoren führt bei Trüper zu einer aphoristischen, umwegigen, bisweilen ironischen Darstellung, die gleichwohl systematische Ansprüche verfolgt. Gegen Relativierungen und den Zerfall der Geschichte in plurale Geschichten setzt er einen starken Begriff von Geschichte: Die Tätigkeit des Geschichtlichmachens erzeugt ihren Gegenstandsbereich, der als Teil der Wirklichkeit real und wirkmächtig ist.
————————
Henning Trüper ist Historiker und leitet das ERC-Projekt Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800 am ZfL. Seit Januar 2024 ist er Associate Professor an der Universität Oslo. Der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder leitet das Schwerpunktprojekt Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland am ZfL.
www.zfl-berlin.org
————————
Das Buch:
[Henning Trüper: Unsterbliche Werte. Über Historizität und Historisierung. Wallstein 2024](https://www.zfl-berlin.org/publikationen-detail/items/unsterbliche Werte.html)
Weiterführende Literatur:
Reinhard Blänkner, Falko Schmieder, Christian Voller, Jannis Wagner (Hg.): Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie? Perspektiven einer Kulturgeschichte im Ausgang von Heinz Dieter Kittsteiner. Bielefeld: transcript 2021
Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart, übers. von Frank Born. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010
Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders.: Kant’s gesammelte Schriften, hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Abt. I, Bd. 7. Berlin: Reimer 1907
Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft: Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1979
_: Zeitschichten: Studien zur Historik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000
Jurij Lotman: Die Innenwelt des Denkens: Eine semiotische Theorie der Kultur, übers. von Gabriele Leupold und Olga Radetzkaja. Berlin: Suhrkamp 2010
Friedrich Nietzsche: »Unzeitgemässe Betrachtungen II: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben«, in: ders.: Werke, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Abt. III, Bd. 1. Berlin/Boston: De Gruyter 1972, 239–330
Henning Trüper: Topography of a Method: Francois Louis Ganshof and the Writing of History. Tübingen: Mohr Siebeck 2014
Kommentare
Neuer Kommentar