Episode 26: Ernst Jünger
Detlev Schöttker spricht mit Claude Haas über sein Buch Die Archive des Chronisten. Ernst Jüngers Werke und Korrespondenzen (Wallstein 2025). Darin zeigt er Jünger als Chronisten des 20. Jahrhunderts, der keineswegs bloß historische Tatsachen aneinanderreiht, sondern sich als Geschichtsdeuter versteht. Das auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Vorbilder zurückgehende Darstellungsverfahren der Chronik macht sich Jünger gattungsübergreifend zu eigen, in Tagebüchern und Briefwechseln, Kriegsberichten, Romanen und Essays.
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Jüngers Schreiben zeichnet sich durch eine Tiefe der Beobachtung aus, die erst durch die Distanz zum Geschehen möglich wird und die Jünger in seinem »Sizilianischen Brief an den Mann im Mond« zum poetologischen Prinzip erhebt. Diese Distanziertheit birgt jedoch auch eine gewisse Kälte in sich, die in der Rezeption immer wieder für Irritationen gesorgt hat. Das trifft besonders auf die »Strahlungen« zu, mit deren Veröffentlichung 1949 Jünger früh literarisches Zeugnis von Konzentrationslagern, Gestapo- und SS-Gefängnissen ablegte. Jüngers Schilderungen des Luftkriegs über Paris wurde der Vorwurf gemacht, das Schrecken zu ästhetisieren.
Als bisweilen verstörend wurden Jüngers Versuche gewertet, den Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten im Geiste einer Universalgeschichte in ein größeres Sinngeschehen zu integrieren oder doch zumindest Erklärungsansätze dafür zu liefern. Von vielen als reaktionär bewertet, kann seine distanzierte Betrachtung der Geschehnisse wohl mindestens als eskapistisch gelten. Jüngers universalgeschichtlicher Zugriff stößt hier an eine politische Grenze. Andererseits erlaubt es Jüngers Betonung der starken Einzelpersönlichkeit des Geschichtsdeutenden, ihn entgegen gängigen Kategorisierungen als Vertreter der Moderne zu betrachten – selbst wenn der universalgeschichtliche Gestus seiner Chronistik in den literarischen Werken häufig in Kitsch umschlägt.
Anders verhält es sich mit den Briefen, denen Schöttker neben den Tagebüchern besondere Aufmerksamkeit schenkt. Der Brief galt Jünger als die wichtigste historische Quelle überhaupt. Der schiere Umfang des Briefarchivs, an dessen Form und Organisation Jüngers zweite Ehefrau Liselotte als ausgebildete Archivarin maßgeblichen Anteil hatte, zeugt von der herausragenden Bedeutung, die er der Korrespondenz als partnerschaftlicher Form der Verbindlichkeit und des intellektuellen Austauschs beimaß. Für den ›Archivautor‹ Jünger, der bereits zu Lebzeiten bemüht war, sein Nachleben, mithin seine Unsterblichkeit zu sichern, hatten die sorgsam archivierten Briefwechsel noch eine weitere Bedeutung: Bei der Lektüre nimmt man posthum Anteil am persönlichen Leben der Schreibenden, die einem somit (fast) lebendig erscheinen.
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Der Literatur- und Medienwissenschaftler Detlev Schöttker ist Senior Fellow des ZfL und erforschte dort das Briefarchiv Ernst Jüngers. Derzeit leitet er das Projekt Kommentierte Edition des Briefwechsels zwischen Ernst und Friedrich Georg Jünger (1908–1977). Der Germanist und Komparatist Claude Haas ist Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur am ZfL und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Schwerpunktprojekt Stil. Geschichte und Gegenwart.
www.zfl-berlin.org
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Das Buch:
Detlev Schöttker: Die Archive des Chronisten. Ernst Jüngers Werke und Korrespondenzen. Göttingen: Wallstein 2025
Weiterführende Literatur:
Eva Axer, Eva Geulen, Alexandra Heimes: Aus dem Leben der Form. Studien zum Nachleben von Goethes Morphologie in der Theoriebildung des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 2021
Jeinsen, Gretha (d.i. Gretha Jünger): Die Palette. Tagebuchblätter und Briefe. Hamburg: Dulk 1949
Ernst Jünger, Joseph Wulf: Der Briefwechsel 1962–1974, hg. von Anja Keith und Detlev Schöttker. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2019
Gretha Jünger, Ernst Jünger: Einer der Spiegel des Anderen. Briefwechsel 1922–1960, hg. von Anja Keith und Detlev Schöttker. Stuttgart: Klett-Cotta 2021
Ernst Jünger: Sizilianischer Brief an den Mann im Mond, in: Franz Schauwecker (Hg.): Mondstein. Magische Geschichten. 20 Novellen. Berlin: Frundsberg-Verlag 1930, 7–21
Ernst Jünger: Strahlungen. Tübingen: Heliopolis 1949
Helmuth Kiesel: Tendenzen der publizistischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Ernst Jünger und seinem Werk, in: Natalia Żarska, Gerald Diesener, Wojciech Kunicki (Hg.): Ernst Jünger – eine Bilanz. Leipzig: Leipziger Universitäts-Verlag 2010, 512–519
Detlev Schöttker: Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung. München: Fink 2008
: Tiefe Blicke. Ernst Jüngers Chronistik, in: Andrea Benedetti, Lutz Hagestedt (Hg.): Totalität als Faszination. Systematisierung des Heterogenen im Werk Ernst Jüngers. Berlin, Boston: de Gruyter 2018, 335–349
Erhard Schütz: Warum sollte man heute noch Ernst Jünger lesen – vor allem als Frau?, in: Der Freitag 7 (16.2.2023)
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