Bücher im Gespräch

Episode 21: Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts

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Falko Schmieder und Georg Toepfer (beide ZfL) sprechen über das Lexikon Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen, das seit 2024 kontinuierlich im Open Access im Schwabe Verlag erscheint. Die Einträge analysieren politisch-soziale und kulturelle Schlüsselwörter des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive verschiedener Disziplinen und ermöglichen es so, die Veränderungen kollektiver Einstellungen und politischer Anschauungen nachzuvollziehen.

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Wer über Begriffsgeschichte spricht, kommt um die Geschichtlichen Grundbegriffe nicht herum. Trat das maßgeblich vom Historiker Reinhart Koselleck verantwortete gleichnamige Lexikon noch mit dem Anspruch an, Großthesen wie die von der Sattelzeit um 1800 zu bestätigen, verfolgen Falko Schmieder und seine Mitherausgeber:innen einen offeneren Ansatz. Sie interessieren sich nicht mehr (nur) für den literarischen und theoretischen Höhenkamm, sondern vor allem für den populären politischen Sprachgebrauch und konsultieren vermehrt Alltagsmedien wie Zeitschriften.

Eine weitere Besonderheit des Lexikonprojekts ist seine Interdisziplinarität, die sich bereits an den drei beteiligten Instituten zeigt. Während am IDS in Mannheim Grundbegriffe großer Reichweite und Dauer wie Demokratie oder Kapitalismus in den Blick genommen werden, liegt der Fokus am ZZF in Potsdam auf Zeit- und Prozessbegriffen wie Fortschritt und Innovation. Diese hatten insbesondere in der politischen Umbruchszeit um 1970 Konjunktur, ebenso wie Netzwerk und weitere Begriffe aus dem Bereich der Computer- und Informationstechnologie. Im Zentrum der begriffsgeschichtlichen Forschung am ZfL stehen Begriffe wie Globalisierung, die neben einem veränderten Welt- und Zeitverhältnis auch eine Tendenz zur Verwissenschaftlichung der (politischen) Sprache anzeigen. So untersucht Georg Toepfer, wie sich Diversität im Laufe des 20. Jahrhunderts von einem biologischen Terminus zu einem normativen Konzept entwickelt hat, das aus gesellschaftspolitischen Debatten nicht mehr wegzudenken ist.

Solche Wanderbewegungen zwischen Disziplinen und Diskursdomänen zeichnen die Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts allgemein aus, wobei der Sprachgebrauch oft in Spannung zu den gewohnten historiografischen Periodisierungen steht. Die Untersuchung von im Nationalsozialismus bedeutsamen Begriffen legt auch deren teils weit zurückreichenden Vorgeschichten sowie ihren Fortbestand in der Nachkriegszeit offen. Aus heutiger Sicht erklärt die nationalsozialistische Vergangenheit außerdem einige Auslassungen in den Geschichtlichen Grundbegriffen. Dazu gehört der Begriff der Grenze, der zwar im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielte, aber in der nationalsozialistischen Grund- und Bodenideologie und Ostpolitik zum Kampfbegriff geworden war.

Der rasante Bedeutungs- und Konjunkturwandel von Begriffen im 20. und 21. Jahrhundert wirft schließlich die Frage auf, ob es für eine Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht zu früh ist, ihre Verfasser:innen nicht selbst noch zu gefangen in ihm sind. Hier zeigt sich der Vorteil der Begriffsgeschichte als quellengesättigter Wissenschaft. Denn die durch sie zutage geförderten Belegstellen sind auch unabhängig von der spezifischen Perspektive und Deutung, die ein Lexikoneintrag einnimmt, von historischem Wert. Eine quantitative wie qualitative Neuerung bringen dabei für die Begriffsgeschichte entwickelte digitale Werkzeuge, die es erlauben, in bislang unbekanntem Maß umfassende Textkorpora zu erschließen.

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Der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder leitet das Schwerpunktprojekt Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland am ZfL. Er war zuvor u.a. wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Theorie und Konzept einer interdisziplinären Begriffsgeschichte und leitete von 2009 bis 2013 das Projekt Übertragungswissen – Wissensübertragungen. Zur Geschichte und Aktualität des Transfers zwischen Lebens- und Geisteswissenschaften (1930/1970/2010). Der Biologe und Philosoph Georg Toepfer ist Ko-Leiter des Programmbereichs Lebenswissen am ZfL und leitet dort die Projekte Diversität. Begriffe, Paradigmen, Geschichte und Aitiologien in den Wirklichkeitserzählungen der Naturwissenschaften: Zur epistemischen Funktion von Ursprungs(re)konstruktionen.


www.zfl-berlin.org
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Das Lexikon:

Ernst Müller, Barbara Picht, Falko Schmieder (Hg.), unter Mitarbeit von Mark Dang-Anh, Alexander Friedrich, Rüdiger Graf und Stefan Scholl: Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur histo-rischen Semantik in Deutschland. Basel: Schwabe Verlag 2024 ff.

Tools:

COSMAS

DiaCollo

SCoT

Weiterführende Literatur:

Karlheinz Barck, Martin Fontius, Friedrich Wolfzettel, Burkhart Steinwachs (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2000 ff.

Alexander Friedrich, Stefan Scholl, Simon Specht: »Tools und Korpora für ›Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland‹. Digitale Begriffsgeschichte mit COSMAS II, DiaCollo und SCoT«, in: Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen, hg. von Ernst Müller, Barbara Picht und Falko Schmieder. Basel: Schwabe Verlag 2024

Ernst Müller, Falko Schmieder: Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. Berlin: Suhrkamp 2016

Ernst Müller, Barbara Picht, Falko Schmieder: »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur politisch-sozialen und kulturellen Semantik in Deutschland«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 63.1 (2021), Themenheft: Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts, 7–30, mit einer Vorstellung des Projekts und kritischen Würdigungen

Falko Schmieder, Georg Toepfer (Hg.): Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2018

Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 13.1 (2024): Mit Koselleck über Koselleck hinaus, hg. von Falko Schmieder (im Erscheinen)

Georg Toepfer (Hg.): Historisches Wörterbuch der Biologie. Geschichte und Theorie der biologischen Grundbegriffe, 3 Bde. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2011


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