Episode 27: Afrotopia
Jenaba Samura spricht mit Liola Mattheis (beide ZfL) über ihren Essay Afrotopia. Schwarze Konstruktionen von Gender und Sexualität (Berlin: Querverlag 2025). Darin kritisiert sie die weitverbreitete Vorstellung, dass Schwarzsein und Queerness einander ausschließen, und untersucht die Verwobenheit von Geschlecht und Sexualität mit kolonialen Praktiken und Prozessen der Rassifizierung.
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Samura verbindet in der integrativen Form des Essays persönliche Erfahrungen mit wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Beobachtungen. Besonders kritisch beleuchtet sie das Whitewashing queerer Geschichte sowie die Aneignung Schwarzer Ästhetiken und Praktiken der Lebensgestaltung. Dabei zeigt sie, dass Konzepte wie Nichtbinarität keine westlichen Erfindungen sind, sondern dass umgekehrt die rigide binäre Geschlechterordnung ein kolonialer Export ist, der als Teil einer colonization of the mind begriffen werden kann.
Dies wird anhand der deutschen Kolonialgeschichte und der Bedeutung weißer deutscher Frauen für die Konsolidierung der kolonialen (Geschlechter-)Ordnung in Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) deutlich. Ihre gezielte Aussiedlung, die von der ersten Frauenbewegung als feministisches Aufstiegsprojekt gepriesen wurde, sollte sogenannte Mischehen und somit die Weitergabe der Staatsbürgerschaft an Nichtweiße verhindern. Dieses koloniale Projekt der Etablierung weißer Vorherrschaft ging mit der Kriminalisierung von Homosexualität durch den aus dem Kaiserreich exportierten § 175 einher.
Generell lässt sich im Zuge der Etablierung einer auf Reproduktion ausgerichteten heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit in Europa die Tendenz feststellen, sexuelle ›Abweichungen‹ wie Homosexualität und Polygamie außerhalb Europas zu verorten. Nichtweiße Sexualität und Geschlechtlichkeit wurden dabei häufig widersprüchlich gezeichnet, Schwarze Körper z.B. gleichzeitig de- und hypersexualisiert. Im Bild des virgin land verschmelzen schließlich Vorstellungen des zu erobernden Lands mit solchen von der Schwarzen Frau, was der Legitimierung kolonialer und sexualisierter Gewalt dient.
Samura betrachtet jedoch nicht nur koloniale sowie cis- und heterosexistische Gewalt, sondern auch im heutigen Sinne queere Personen und Praktiken in der afrikanischen Geschichte. Deren Erforschung ist mit methodischen Herausforderungen verbunden. Zum einen besteht die Gefahr, heutige Identitätskategorien rückwirkend auf historische Kontexte zu übertragen und dabei präzisere lokale Konzepte zu verdrängen. Zum anderen gibt es große Lücken im Archiv, und vorhandenes Material stammt oft von Kolonialbeamten und muss kritisch betrachtet werden. Critical fabulation im Sinne Saidiya Hartmans kann helfen, diese Lücken zu füllen. Insgesamt eröffnen historische Beispiele des Widerstands und der ›Abweichung‹ von hegemonialen Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität Perspektiven für ein utopisches Nachdenken, in dem sich Vorstellungen von Afro- und Queertopia verbinden.
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Die Literaturwissenschaftlerin Jenaba Samura ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Schwarze Narrative transkultureller Aneignung: Literarische Akte des Konstruierens afroeuropäischer Welten und der Infragestellung europäischer Grundlagen. In ihrem Dissertationsprojekt untersucht sie afropäische Reiseberichte als Gegenerzählungen zu kolonial-ethnografischen Darstellungen. Liola Mattheis ist Kulturwissenschaftlerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt Aitiologien in den Wirklichkeitserzählungen der Naturwissenschaften: Zur epistemischen Funktion von Ursprungs(re)konstruktionen. Sie promoviert zu rekapitulativen Entwicklungsideen in Evolutionsbiologie und marxistischer Theorie.
www.zfl-berlin.org
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Das Buch:
Jenaba Samura: Afrotopia. Schwarze Konstruktionen von Gender und Sexualität. Berlin: Querverlag 2025
Weiterführende Literatur:
Shanna Collins: The Splendor of Gender Non-Conformity in Africa, in: Medium Magazine (10.10.2017)
Frantz Fanon: Racism and Culture, in: ders.: Toward the African Revolution. Political Essays, aus dem Französischen von Haakon Chevalier. New York: Grove Press 1967, 29–44
Saidiya Hartman: Venus in Two Acts, in: Small Axe 12.2 (2008), 1–14
Natasha A. Kelly (Hg.): The Comet – Afrofuturism 2.0. Leipzig: Orlanda 2020
Sophie Lewis: Enemy Feminisms. TERFs, Policewomen, and Girlbosses Against Liberation. Chicago: Haymarket Books 2025
José Esteban Muñoz: Cruising Utopia. The Then and There of Queer Futurity. New York: New York University Press 2009
Stephen O. Murray, Will Roscoe (Hg.): Boy-Wives and Female Husbands. Studies in African Homosexualities. Albany: SUNY Press 2021
Oyèrónkẹ́ Oyěwùmí: The Invention of Women. Making an African Sense of Western Gender Discourses. Minneapolis/London: University of Minnesota Press 1997
Jenaba Samura, Sarah Ulrich: [Hass auf Queers als Paragraf](\srv01\fileserver$\Orga\Podcast\Episoden\Episode 27_Afrotopia\Hass auf Queers als Paragraf), in: Missy Magazine 3 (2024)
Felwine Sarr: Afrotopia, aus dem Französischen von Max Henninger. Berlin: Matthes & Seitz 2019
Katharina Walgenbach: »Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur«. Koloniale Diskurse über Geschlecht, »Rasse« und Klasse im Kaiserreich. Weinheim: Campus 2006
Daniel J. Walther: Sex and Control. Venereal Disease, Colonial Physicians, and Indigenous Agency in German Colonialism, 1884–1914. New York: Berghahn 2015
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