Bücher im Gespräch

Episode 4: Selbstübersetzung

Episode 4: Selbstübersetzung

Karine Winkelvoss (Universität Rouen) und Stefan Willer (HU) sprechen über »W. G. Sebald, l’économie du pathos« (Paris: Classiques Garnier 2021) und »Selbstübersetzung als Wissenstransfer« (Berlin: Kulturverlag Kadmos 2020).

Karine Winkelvoss und Stefan Willer sprechen – auch anhand eigener Erfahrungen – über die Selbstübersetzung als Thema und Modus literatur- und kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Während der von Stefan Willer und Andreas Keller herausgegebene Band »Selbstübersetzung als Wissenstransfer« das Thema in historischer Perspektive beleuchtet, erlebt Karine Winkelvoss die Herausforderungen der Selbstübersetzung bei ihren Forschungen zur »Poetik der Pathosformel« bei W. G. Sebald am eigenen Leib.

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Was bedeutet es, germanistische Themen in einer Fremdsprache zu bearbeiten? Und was nützt die reizvolle und erkenntnisfördernde Differenz zwischen Objekt- und Metasprache, wenn französischsprachige Germanistik im deutschsprachigen Raum letztlich nicht rezipiert wird? Vor allem aber: Steht am Ende der Selbstübersetzung wirklich eine Übersetzung und nicht viel eher ein neues Original?

Ausgehend von diesen Fragen wird der Trugschluss diskutiert, dass die Identität von Autor*in und Übersetzer*in größtmögliche Deckung zwischen Original und Übersetzung gewährleiste. Vielmehr bietet die Übersetzung eigener Texte größere Freiheiten als die fremder, indem sie ein stetiges Um- und Andersschreiben der eigenen Gedanken erlaubt. Aus Selbstübersetzung wird so Selbstexperiment, in dem sich das schreibende Ich in ein anderes übersetzt, das sich je nach Kontext neu verorten muss.

Das geschieht mal freiwillig, meist jedoch aus Notwendigkeit. Interessant wird es besonders dann, wenn in der Selbstübersetzung die hegemoniale Wissenschaftssprache verlassen wird, wie bei Luther das Lateinische oder bei den Gebrüdern Humboldt das Französische. Umgekehrt ist gerade in der heutigen globalisierten Wissen(schaft)slandschaft ein Zwang zum Forschen und Schreiben in der ›Leitsprache‹ festzustellen, die als reine ›Arbeitssprache‹ vermeintlich neutrales Kommunikationsmedium ist.

Bei den untersuchten und selbst erprobten Selbstübersetzungen rückt jedoch gerade die sprachliche Verfasstheit und damit verbundene Sprachabhängigkeit allen Wissens in den Vordergrund. Denn mit einem Sprach- geht oftmals ein Registerwechsel einher, ein Übergang in eine andere Wissenskultur und mit ihm ein Wissenstransfer.

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Die Germanistin Karine Winkelvoss lehrt an der Universität Rouen. Von 2015–2018 war sie mit dem Projekt »Poetik der Pathosformel. Beitrag zu einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft« Forschungsstipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung am ZfL. Stefan Willer ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2010–2018 war er stellvertretender Direktor des ZfL, wo er unter anderem das Forschungsprojekt »Übersetzungen im Wissenstransfer« leitete.

www.zfl-berlin.org

Episode 3: Seuchenjahr

Henning Trüper (ZfL) spricht mit Christoph Paret (Uni Wien) über sein Buch »Seuchenjahr« (Berlin: August Verlag 2021).

In einem 96-teiligen Langessay unternimmt der Historiker Henning Trüper den Versuch, Ordnung ins pandemische Geschehen zu bringen. Mit dem Philosophen Christoph Paret spricht er über die Verwandtschaft von Phobie und Theorie, die Bedingungen und Möglichkeiten politischen und moralischen Handelns in Zeiten von Lockdown, Unsicherheit und Unsouveränität sowie die Geschichtsschreibung als Form der Totenfürsorge.
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Einer von Lukian überlieferten Erzählung zufolge kam es in der Stadt Abdera in Thrakien einst zum Ausbruch einer Seuche, die alle Abderit*innen nur noch in Versen sprechen und sich als Figuren einer Tragödie verstehen ließ. In der Überlieferung über Wieland zu Kant gewinnt die Satire ernsthaftes Gewicht. Als Einsicht in die Sinnlosigkeit der Verhältnisse und die menschliche Ohnmacht, den Gang der Geschichte zu beeinflussen, wird der »Abderitismus« zu einer von drei möglichen Positionen ihr gegenüber.

Während Kant diesem Fatalismus noch optimistisch die Hoffnung auf eine Verbesserung der Verhältnisse entgegensetzt, stellt sich für Adorno realistisch betrachtet nur noch die Wahl zwischen moralischem Terrorismus und der mäßig beruhigenden Einsicht, in einer sinnlosen Welt zu leben.

Henning Trüper interessiert sich für die Frage, ob sich ausgehend von einzelnen Symptomen – Geschichtszeichen im kantischen Sinn –, dennoch Aussagen über das große Ganze treffen lassen und inwiefern sich hier eine Möglichkeit zur Rehabilitation der Geschichtsphilosophie auf dem Feld der Moral eröffnet.

Das pandemische Geschehen scheint dabei mehr und mehr Adornos »Minima Moralia« zu bestätigen, worüber sich letztlich eine Brücke von den humanitären Dilemmata, vor die uns COVID stellt, zur paradoxen Situation des Humanitarismus überhaupt schlagen lässt, dessen Rettungsaktionen stets die Schaffung stabiler und eindeutiger Entscheidungssituationen gegenüber einem sinnlos erscheinenden Geschehen verlangen.

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Henning Trüper ist Historiker und leitet das ERC-Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800« am ZfL. Der Philosoph Christoph Paret ist Universitätsassistent an der Universität Wien. 2019 war er mit dem Projekt »Hans Blumenbergs Variationen auf das Ende der Theorie« wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL.

www.zfl-berlin.org

Episode 2: Klassiker des russischen und sowjetischen Films

Barbara Wurm (HU Berlin) spricht mit Matthias Schwartz (ZfL) über »Klassiker des russichen und sowjetischen Films«, Bd. 1 & 2 (Marburg: Schüren 2020).

»Für uns ist der Film die wichtigste aller Künste«, teilte Lenin 1922 seinem Volkskommissar für Bildungswesen, Anatolij Lunačarskij, mit. Und so nimmt es nicht Wunder, dass das neue Medium in der Sowjetunion so stark gefördert und subventioniert wurde wie kaum irgendwo sonst. Das Resultat ist eine schier unüberschaubare Fülle an Filmen verschiedenster Genres. Die in zwei Bänden beim Schüren-Verlag erschienenen »Klassiker des russischen und sowjetischen Films« stellen insgesamt 44 davon vor – über die Schwierigkeiten der Auswahl, Einordnung und Bewertung sprechen die Herausgeber*innen des zweiten Bands, Barbara Wurm und Matthias Schwartz, miteinander.

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Was macht einen Klassiker eigentlich zum Klassiker? Und was ist das besondere eines russischen oder sowjetischen Klassikers? Oder anders gefragt: Inwiefern hat das sowjetische Kulturdenken zur Etablierung dieser Kategorie beigetragen? Und was heißt überhaupt »sowjetisch«? Barbara Wurm und Matthias Schwartz verwenden diesen Begriff zunächst ganz pragmatisch-deskriptiv – bemerken jedoch, dass er in den letzten Jahrzehnten im innerrussischen Diskurs zunehmend von der mindestens ebenso diskussionswürdigen Kategorie des ›Vaterländischen‹ überschrieben wird.
Vor dem Hintergrund der seit 2010 verstärkt festzustellenden Rebürokratisierung der russischen Kulturproduktion mit dem Ziel ihrer Dienstbarmachung für gouvernementale Zwecke wird klar: Die Geschichte des Films und der Kultur im Allgemeinen muss stets auch als (kultur-)politische Geschichte betrachtet werden – und manchmal neigen wir in der Rückschau zur Vereinfachung.

So wird der undifferenzierte Vorwurf des »Propagandistischen« der Vielfalt des russischsprachigen Kinos mit seiner über hundertjährigen Geschichte nicht gerecht. Dazu gehören die Filme der weltweit Kultstatus genießenden Meister Ėjzenštejn und Tarkovskij, der Cannes-Gewinner »Die Kraniche ziehen« von Kalatozov, aber auch Werke, die im Westen kaum Beachtung fanden: Rjazanovs »Ironie des Schicksals« zum Beispiel, der noch immer bei keinem russischen Neujahrsfest fehlen darf, oder Danelias Kultfilm »Kin-dsa-dsa!«. Mit Werken Muratovas und Askol’dovs gehören zu den »Klassikern« schließlich auch ›Schubladenfilme‹, die erst nach dem Ende der Sowjetunion einem breiteren Publikum zugänglich wurden.

Fazit: Erst durch die Verabschiedung der monolithischen Vorstellung einer ausschließlich über Zentralismus und Zensur operierenden sowjetischen Kulturproduktion entsteht ein differenziertes Bild des russischsprachigen Kinos. Erst dann wird beispielsweise die Zeitlosigkeit der Überlegungen zur Gewalt in Klimovs »Komm und sieh« sichtbar. Diese diskutieren Barbara Wurm und Matthias Schwartz ebenso wie die Frage, warum es eigentlich kein sowjetisches »Star Wars« gibt.

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Die Slawistin Barbara Wurm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Slawistik und Hungarologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie promovierte 2017 zum sowjetischen Kulturfilm. Matthias Schwartz ist Slawist und Leiter des Programmbereichs Weltliteratur des ZfL, an dem sein Projekt »Weltfiktionen post/sozialistisch« angesiedelt ist.

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Episode 1: Hegels Logik

Patrick Eiden-Offe (ZfL) spricht mit Falko Schmieder (ZfL) über Patrick Eiden-Offe: »Hegels ›Logik‹ lesen. Ein Selbstversuch« (Berlin: Matthes & Seitz 2020).

Veröffentlicht am 15.3.2021.

In einem langen Berliner Winter hat Patrick Eiden-Offe den Selbstversuch gewagt und sich jeden Morgen eine Stunde in die »Wissenschaft der Logik« vertieft. Mit Falko Schmieder spricht er über persönliche Zugänge zu Hegels vermeintlich unpersönlichstem Werk, die Tradition des Lektürebuchs von Lenin über Brecht bis Althusser und Hegellektüren nach der Postmoderne.

Erschienen 2020, zum 250. Geburtstag des Philosophen, ist sein Lektüreexperiment auch ein Beitrag zur im Jubiläumsjahr allseits diskutierten Aktualität Hegels. Die Vertiefung ins »dunkle Herz des Hegel’schen Systems« erlaubt dabei ein Heraustreten aus dem aktuellen Geschehen und gleichzeitig eine Neubestimmung Hegels als Zeitgenossen, der uns noch immer etwas zu sagen hat.

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Eiden-Offe nähert sich der »Logik« in seinem Buch über drei Zugänge. Der erste geht mit Brecht über den Humor und stellt uns Hegel als Denker der Veränderung und des Unabgeschlossenen vor. Der zweite sucht über den Begriff der Erfahrung in Hegels »Logik« nach Spuren der Krisen seiner Zeit. Im dritten nähert sich der Literaturwissenschaftler Eiden-Offe Hegel über die Entfaltung von, mit Adorno gesprochen, »schönen Stellen«.

Ausgehend von diesem Gerüst geht es im Gespräch um Hegels Interesse am Dialektischen (und weniger der Dialektik), um sein Denken der Auflösung (und weniger der Aufhebung) und das gemeinsam mit Hölderlin angegangene Projekt einer neuen philosophisch-poetischen Sprache.

Um Sprache geht es auch dem Nature Writing – und bei der Anwendung dieses Begriffs auf Hegels Schreiben um die Frage, wie viel Materialismus beim großen »Philosophen des Geistes« zu finden ist. Eine weitere Überraschung schließlich ist in der heutigen Lektüre der Trost, den Hegels Logik zu spenden vermag.
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Patrick Eiden-Offe ist Germanist und arbeitet derzeit an einer intellektuellen Biographie von Georg Lukács. Der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen« am ZfL.

www.zfl-berlin.org