Episode 10: Politische Ökologie
Leander Scholz spricht mit Falko Schmieder (beide ZfL) über sein Buch Die Regierung der Natur. Ökologie und politische Ordnung (August Verlag 2022).
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Mit dem Aufkommen der politischen Ökologie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist eine Wende von einer anthropologischen zu einer ökologisch-terrestrischen Anschauung der Welt zu beobachten. An diesem Bewusstseinswandel interessiert Leander Scholz vor allem die Dialektik von Politisierung der Natur und Ökologisierung der Gesellschaft. Während durch die ökologische(n) Krise(n) immer mehr natürliche Faktoren zum Gegenstand von Politik werden, geht die Natur verstärkt in die Regierungspraxis ein und verändert damit den politischen Raum.
Dem Anthropos im epochenprägenden Bild der durch menschliche Arbeitskraft entstandenen ›Zweiten Natur‹ steht in der ökologisch-terrestrischen Epoche seine Dezentrierung gegenüber. Diese tritt besonders radikal in Bewegungen wie Earth First! zutage, bedeutet aber keineswegs ein Verschwinden des Menschen: Die posthumane Welt ist nicht antihuman, sondern der Mensch teilt sie sich mit anderen Lebewesen. Seine Aufgabe ist es nunmehr, die Reste der durch sein Verschulden sterbenden Natur zu verwalten.
Positiv interpretiert kann diese Überwindung der Sonderstellung des Menschen zu einem neuen Selbstverständnis und mit Latour gesprochen zur Anerkennung der Natur als gleichberechtigter politischer Akteurin führen. Wenn aber beispielsweise Naturentitäten mit einklagbaren Rechten ausgestattet werden, ergeben sich Stellvertretungsprobleme. Eine solche Ausweitung des Demokratiebegriffs stellt nicht nur eine Herausforderung von Positionen der politischen Philosophie (Arendt, Plessner) dar und riskiert, in menschlichen Bestimmungen verhaftet zu bleiben. Sie wirft vor allem die Frage ihrer praktischen Umsetzbarkeit auf. Eine Grundfrage unserer Gegenwart ist daher, ob die politische Ökologie letztlich nur der weiterhin dominierenden politischen Ökonomie einverleibt wird oder ob ein echter Paradigmenwechsel stattfindet. Fraglich ist auch, ob die Entwicklung des ökologischen Denkens nicht zu einer Naturalisierung des Sozialen führt, die historisch in ihren Extremfällen in Rassenkunde und Eugenik mündete.
Leander Scholz’ Rekapitulation der Geschichte der politischen Ökologie nimmt vor allem rechtskonservative Denker und Konzepte in den Blick, so zum Beispiel Friedrich Ratzels ›Lebensraum‹ oder Ernst Rudorff, an dessen Person die Entstehung des Konzepts Naturschutz im diskursiven Umfeld von Denkmal-, Brauchtums- und Heimatschutz illustriert werden kann. Die heute geläufige Wahrnehmung der Ökologiebewegung als links hat ihren Ursprung erst in der Fusion der ökologischen mit den neuen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit. Während ein Bewusstsein für die politische Geschichte des Konzepts für seine heutige Nutzbarmachung unabdingbar ist, geht es Scholz weniger um die Frage, ob die politische Ökologie eher ›linke‹ oder ›rechte‹ Kritik übt, sondern welches neue Paradigma mit ihr auftaucht, das die anthropozentrischen politischen Lagereinteilungen zuweilen durchbricht. In jedem Fall ist er sich sicher, dass die Entwicklung der politischen Ökologie zu einer deutlichen Veränderung im menschlichen Selbstverhältnis und Denken führt – fragt sich nur, ob diese rechtzeitig kommt.
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Der Philosoph und Schriftsteller Leander Scholz ist ZfL-Forschungsstipendiat im Programmbereich Lebenswissen. Er studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Germanistik in Bonn, Bochum, Paris und Köln, hat mehrere Romane veröffentlicht und ist Mitbegründer des Tropen Verlags sowie freier Mitarbeiter des Deutschlandfunks. 2012 wurde er mit einer Arbeit zu Todesobsessionen in der politischen Philosophie an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar habilitiert. Der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen.
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Das Buch:
Leander Scholz: Die Regierung der Natur. Ökologie und politische Ordnung. Berlin: August Verlag 2022
Weiterführende Literatur:
Hannah Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München: Piper 2022
Benjamin Bühler: Zwischen Tier und Mensch. Grenzfiguren des Politischen in der Frühen Neuzeit. München: Wilhelm Fink 2013
Daniela Gottschlich/Sarah K. Hackfort/Tobias Schmitt/Uta von Winterfeld (Hg.): Handbuch Politische Ökologie. Theorien, Konflikte, Begriffe, Methoden. Bielefeld: Transcript (erscheint 2022)
Andreas Höntsch: »Zwischen politischem Humanismus und politischer Ökologie. Politische Anthropologie bei Helmuth Plessner und Bruno Latour«, in: Internationales Jahrbuch für philosophische Anthropologie 10.1, 99–124 Bruno Latour: Das Parlament der Dinge: Für eine politische Ökologie, übers. von Gustav Roßler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010
Dennis Meadows/Donella Meadows/Erich Zahn/Peter Milling: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1972
Falko Schmieder: »On the Dialectics of Ecological World Concepts«, in: Helge Jordheim/Erling Sandmo (Hg.): Conceptualizing the World. An Exploration across Disciplines. New York/Oxford: Berghahn 2019, 94–107
Leander Scholz: Symbiotische Existenzen – Zur Geschichte des ökologischen Imaginären, in: ZfL BLOG, 23.5.2022
___: Die Menge der Menschen. Eine Figur der politischen Ökologie. Berlin: Kulturverlag Kadmos 2019
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