Bücher im Gespräch

Episode 13: Stimme, Klang, Musik

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Frauke Fitzner und Denise Reimann sprechen über ihre Bücher Der hörende Mensch in der Moderne. Medialität des Musikhörens um 1900 (Göttingen: Wallstein 2021) und Auftakte der Bioakustik. Zur Wissensgeschichte nichtmenschlicher Stimmen um 1800 und 1900 (Berlin/Boston: de Gruyter 2022).

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Beide Autorinnen nehmen Phänomene aus dem Bereich der Sound Studies in den Blick, denen in den Sattelzeiten um 1800 und um 1900 verstärkte Aufmerksamkeit zuteilwurde. Während Frauke Fitzner nachvollzieht, wie sich mit dem Aufkommen moderner Reproduktionstechniken um 1900 ein neues Verständnis von Musik als Produkt menschlicher Wahrnehmung etablierte, beobachtet Denise Reimann, wie diese Reproduktionstechniken einen neuen Zugang zu nichtmenschlichen Stimmen eröffneten und dabei die sicher geglaubten Grenzen des Menschlichen infrage stellten.

Ihre Erkundungen haben Fitzner und Reimann auch ins Phonogramm- sowie Laut-Archiv der Berliner Humboldt-Universität geführt. Deren Bestände stellen historisch Forschende vor methodische Herausforderungen, denn viele der Aufnahmen sind unter kolonialen Bedingungen oder in Kriegsgefangenschaft entstanden. Häufig sind die Tondokumente zudem nicht hinreichend kontextualisiert und es bleibt im Dunkeln, zu welchem Zweck die Aufzeichnung erfolgte. Bei ihrer Erschließung hat sich ein kulturwissenschaftlicher Ansatz als fruchtbar erwiesen, Quellen aus verschiedenen kulturellen und Wissensbereichen zusammenzubringen und mithilfe genauer Betrachtungen konkreter Schauplätze übergreifende Entwicklungen zu veranschaulichen. Einer dieser Schauplätze ist das Phonogramm-Archiv selbst, an dem sich unter Leitung des langjährigen Direktors Erich Moritz von Hornbostel die Disziplin der vergleichenden Musikwissenschaft herausbildete – eine Entwicklung, die ohne das durch den Phonographen bereitgestellte mediale Dispositiv nicht denkbar gewesen wäre.

Beide Bücher zeichnen sich dadurch aus, dass sie eine wissenschaftshistorische mit einer literaturwissenschaftlichen Sicht auf die Quellen verbinden. So kann beispielsweise der Rückgriff der Naturkundler des frühen 19. und 20. Jahrhunderts auf literarisch-poetische Verfahren bei der Beschreibung von Tierstimmen als Strategie verstanden werden, die ungewohnten Klänge sprachlich einzuhegen. Die ironischen Wendungen in den Texten des Psychologen und Musikforschers Carl Stumpf wiederum fungieren als sprachliche Markierung epistemischer Grenzen. Gerade durch die philologische Untersuchung der Schriftdokumente lässt sich erahnen, wie der Phonograph als Medium den Forschenden buchstäblich die Ohren für die Sprach- und Musikwelten außereuropäischer Kulturen sowie für Geräuschwelten jenseits der menschlichen Artikulation öffnete.

Dass diese Veränderungen im Verhältnis zum Hören und zur Stimme eine lange Vorgeschichte haben, die schon weit vor dieser Medialisierung einsetzte, zeigt das Beispiel des Arztes und Anatomen Antoine Ferrein. Dieser führte bereits 1741 Versuche zur künstlichen Stimmerzeugung an toten Stimmorganen durch – ein unheimlicher Vorläufer späterer ›Sprechmaschinen‹ und Speichermedien, der zugleich auf das Problem der ›Unhörbarkeit der Vergangenheit‹ verweist, mit der jede historische Forschung konfrontiert ist.

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Frauke Fitzner ist Literatur- und Musikwissenschaftlerin und Geschäftsleiterin der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie München. Von 2011 bis 2013 war sie ZfL-Promotionsstipendiatin mit dem Projekt Der hörende Mensch in der Moderne. Medialisierung und Anthropologisierung in Konzeptionen von Musik um 1900. Die Kulturwissenschaftlerin Denise Reimann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur und Koordinatorin der Mosse Lectures an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2014 bis 2016 war sie ZfL-Promotionsstipendiatin mit dem Projekt Schwellenszenen der Stimme. Zur Vorgeschichte der Bioakustik zwischen Wissenschaft, Medientechnik und Literatur um 1800 und 1900.


www.zfl-berlin.org

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Die Bücher:

Frauke Fitzner: Der hörende Mensch in der Moderne. Medialität des Musikhörens um 1900. Göttin-gen: Wallstein 2021

Denise Reimann: Auftakte der Bioakustik. Zur Wissensgeschichte nichtmenschlicher Stimmen um 1800 und 1900. Berlin/Boston: de Gruyter 2022

Weiterführende Literatur:

Kirsten Bayer, Jürgen-K. Mahrenholz: »Stimmen der Völker« – Das Berliner Lautarchiv, in: Horst Bredekamp, Jochen Brüning, Cornelia Weber (Hg.): Theater der Natur und Kunst. Berlin: Henschel 2000, 117–128

Frauke Fitzner: Das eigene Hören hören – Beobachtung und Selbstbeobachtung in Carl Stumpfs Untersuchungen zur Verschmelzung, in: Erwägen Wissen Ethik 26 (2015), 30–32

____ (Hg.): Interjekte 5 (2014): Tempo! Zeit- und Beschleunigungswahrnehmung in der Moderne

Doris Kolesch, Sibylle Krämer (Hg.): Stimme. Annäherung an ein Phänomen. Frankfurt a.M.: Suhr-kamp 2006

Daniel Morat, Hansjakob Ziemer (Hg.): Handbuch Sound. Geschichte – Begriffe – Ansätze. Stuttgart: Metzler 2018

Marianne Sommer, Denise Reimann (Hg.): Zwitschern, Bellen, Röhren. Tierlaute in der Wissens-, Medientechnik- und Musikgeschichte. Berlin: Neofelis Verlag 2018

Denise Reimann: »Grillenspiele. Untersuchungen zum Lautverhalten von Insekten im frühen 20. Jahrhundert«, in: Sophia Gräfe, Georg Toepfer (Hg.): Wissensgeschichte des Verhaltens. Interdisziplinäre Perspektiven. Berlin: de Gruyter 2023 (im Erscheinen)


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