Bücher im Gespräch

Episode 25: Historizität und Historisierung

Episode 25: Historizität und Historisierung

Henning Trüper spricht mit Falko Schmieder über sein Buch »Unsterbliche Werte. Über Historizität und Historisierung« (Wallstein 2024). Darin setzt er sich mit elementaren geschichtsphilosophischen Kategorien und Methoden auseinander und unterzieht die Geschichtswissenschaft einer grundlegenden Kritik. Denn diese, so seine Diagnose, ist nicht nur, wie schon Koselleck befand, theorie-, sondern auch therapiebedürftig.

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Die Debatten um das Ende der Geschichte (Fukuyama) und die breite Gegenwart (Gumbrecht), aber auch die als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausgerufene ›Zeitenwende‹ machen deutlich, wie umkämpft das Feld der Geschichte ist. Dass die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Disziplin nicht neu ist, zeigt die Kritik am Fortschrittsnarrativ der Geschichtsphilosophie.

Auch Henning Trüper versteht Geschichte nicht als progressiven Lernprozess, sondern zeichnet nach, welche teils widersprüchlichen Antworten zu verschiedenen Zeiten auf die Frage gegeben wurden, was Geschichtlichkeit ist. Die Kritische Theorie hat Geschichtlichkeit vor allem im Sinne der Veränderlichkeit von Denkformen und Begriffen verstanden. Trüpers Interesse gilt demgegenüber den Praktiken des Historisierens: Mit welchem Ziel wird Vergangenes zu Geschichtlichem erklärt und als solches erinnert, welchen Ereignissen wird historischer Wert beigemessen und warum?

Diese Wertsetzungen sind stets veränderlich und folgen bestimmten Motivationen, wie bereits Nietzsches Unterscheidung verschiedener Arten von Historisierung in der zweiten »Unzeitgemäßen Betrachtung« zeigt. Wann und wie aber erhalten diese flüchtigen Werte den Charakter von ›unsterblichen Werten‹, also von moralischen Normen? Und in welchem Verhältnis zur Geschichte stehen vermeintliche Nebensachen wie Moral, Humanitarismus oder auch naturgeschichtliche und philosophische Diskurse über das Aussterben?

Ein Blick auf die Textgestalt und die Funktion von Intertextualität in der Geschichte hilft, sich diesen Fragen zu nähern. Die Neulektüre geschichtswissenschaftlicher Klassiker und deren Kombination mit unbekannten, in Vergessenheit geratenen Texten und Autoren führt bei Trüper zu einer aphoristischen, umwegigen, bisweilen ironischen Darstellung, die gleichwohl systematische Ansprüche verfolgt. Gegen Relativierungen und den Zerfall der Geschichte in plurale Geschichten setzt er einen starken Begriff von Geschichte: Die Tätigkeit des Geschichtlichmachens erzeugt ihren Gegenstandsbereich, der als Teil der Wirklichkeit real und wirkmächtig ist.

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Henning Trüper ist Historiker und leitet das ERC-Projekt »Archipelagische Imperative. Schiffbruch und Lebensrettung in europäischen Gesellschaften seit 1800« am ZfL. Seit Januar 2024 ist er Associate Professor an der Universität Oslo. Der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder leitet das Schwerpunktprojekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen. Lexikon zur historischen Semantik in Deutschland« am ZfL.

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Episode 24: Klassische Tragödie

Claude Haas spricht mit Eva Geulen über sein Buch »Der König, sein Held und ihr Drama. Politik und Poetik der klassischen Tragödie« (Wallstein 2024). An der vermeintlich überholten Form der klassischen Tragödie interessieren ihn vor allem ihre Unwahrscheinlichkeit und der Kontrast zwischen Formstrenge und unterschwelligem Chaos. Außerdem bietet sie Anknüpfungspunkte für Debatten über die Rückkehr des Helden und Fragen der Souveränität in der heutigen Politik.

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Bei Corneille dient die klassische Dramenform der (Be-)Gründung absolutistischer Politik. Die aristotelischen Einheiten von Raum, Zeit und Handlung werden in den Dienst der Staatsgründung gestellt, der Souverän als derjenige inszeniert, der Gewohnheiten institutionalisiert und mit dem Helden dessen Machtverzicht verhandelt. Die Komplizenschaft von König und Held kann freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide als Verbrecher Recht stiften. Solche rechtspolitischen Probleme verschärft Racine dadurch, dass er hinter der Bühne das Volk als eine volatile Masse zu erkennen gibt, die die politische Handlung vor sich hertreibt. Weder König noch Held können die Ordnung stabilisieren und echte Souveränität schaffen.
In der deutschen Rezeption galten die Dramen der tragédie classique oft als hölzern und formalistisch, im Gegensatz zur vermeintlich freieren und natürlicheren Darstellung Shakespeares. Und doch gibt es im ausgehenden 18. Jahrhundert Rückgriffe auf die Regelpoetik, die als nostalgische Versuche interpretiert werden können, Ordnung in die nach der Französischen Revolution in Unordnung geratene Welt zu bringen. In ihnen scheinen jedoch stets das Wissen um deren Nichtrestaurierbarkeit und die Einsicht durch, dass sich Politik nicht letztendlich begründen lässt. Aus dem Grund sind es vor allem die Schwierigkeiten, Widersprüche und unauflösbaren Reste der klassischen französischen Tragödie, an die Goethe und Schiller anknüpfen.
Dennoch scheint die klassische Form spätestens in der Weimarer Klassik aus der Zeit gefallen. Nicht nur ist der Machtverzicht des Helden – bei Corneille noch als bewusster Willensakt inszeniert – hier eher Ausdruck seiner Ohnmacht: Goethes Tasso beruft sich auf ein am Hof bereits überholtes Politikverständnis, Schillers Wilhelm Tell hat zwar noch heroische Auftritte, liefert aber keinen Beitrag zur Neugründung der Schweiz. Auch die Einheit der Zeit, von der der Anschein der Zeitunabhängigkeit und universellen Gültigkeit des souveränen Rechts abhängt, wird ironischerweise nur noch in der »Iphigenie auf Tauris« eingehalten, wo das Recht bereits gegründet und sie folglich funktionslos ist.
Spätestens der »Faust« markiert das Ende solcher Versuche, die Einheit der klassischen Form zu stiften. Zwar finden sich hier noch vereinzelt Form- und Stilelemente der klassischen Tragödie, doch ist die moderne Tragödie und mithin die Moderne mit dem Geld durch eine völlig andere Gründungsökonomie strukturiert als der absolutistische Staat. Angesichts dieser Entwicklungen stellt sich die Frage, inwiefern Analysen der klassischen Tragödie Schlüsse für gegenwärtige Fragen nach dem Zusammenhang von ästhetischer Form und politischen Anliegen zulassen. Angesichts autoritärer politischer Akteure, die sich aufführen wie Heroen und Könige, ist mitunter ein unbewusster identifikatorischer Rückgriff auf das klassische Drama zu beobachten. Dem setzt Haas eine an der Analyse der dramatischen Form geschulte Sensibilität für die Unterschiede zwischen historischem Geschehen und Gegenwart entgegen.

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Der Germanist und Komparatist Claude Haas ist Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur am ZfL und wissenschaftlicher Mitarbeiter im Schwerpunktprojekt »Stil. Geschichte und Gegenwart«. Die Literaturwissenschaftlerin Eva Geulen ist die Direktorin des ZfL, Vorstandsmitglied der Geisteswissenschaftlichen Zentren Berlin und Professorin für europäische Kultur- und Wissensgeschichte am Institut für Kulturwissenschaft der HU Berlin.

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Episode 23: Geschwister-Logik

Stefani Engelstein (Duke University) spricht mit Stefan Willer (HU Berlin) über ihr Buch »Geschwister-Logik. Genealogisches Denken in der Literatur und den Wissenschaften der Moderne« (Berlin: De Gruyter 2024). Darin spürt sie Geschwisterbeziehungen nach, die in Genealogien oft zugunsten der vertikalen Abfolge der Generationen vergessen werden. Welche neuen Perspektiven eröffnet der Blick auf horizontale Verästelungen für Fragen der Ähnlichkeit und Identität? Und welche Rolle spielt die Literatur bei der Verhandlung von Geschwisterverhältnissen?

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Im langen 19. Jahrhundert werden in den verschiedensten Wissenschaften genealogische Modelle eingesetzt, um Wissen zu organisieren. Ein wichtiges Werkzeug ist dabei das Modell des Stammbaums, das in so unterschiedlichen Disziplinen wie der Sprachwissenschaft und der Evolutionsbiologie zum Einsatz kommt. In der Philologie dient es der Untersuchung literarischer Verwandtschaftsverhältnisse. Bereits bei Ödipus lässt sich nachlesen, dass die Literatur nicht nur von Eltern und Kindern, sondern auch von Geschwistern bevölkert ist. Um 1800 gibt es dann eine ganze Flut von Geschwistern in der Literatur. Zugespitzt im Zwilling oder Doppelgänger verkörpern sie ein Gegenüber, das weder ganz selbst noch ganz das andere ist.

Die titelgebende Geschwister-Logik setzt der vertikalen Abstammungslogik und dem mit ihr verbundenen essentialistischen Subjektverständnis eine Auffassung von Identität entgegen, die auf veränderlichen Größen wie Ähnlichkeit und Differenz beruht. Besonders deutlich wird dies in Darwins »Über die Entstehung der Arten«, wo sich der Stammbaum, der vermeintlich eine gegebene Genealogie rekonstruiert, als Instrument zu deren Konstruktion erweist. Die Abwesenheit ›natürlicher Arten‹, die Notwendigkeit, deren Grenzen selbst zu bestimmen, entpuppt sich für Darwin als mindestens ebenso unheimlich wie die angenommene Verwandtschaft zwischen Mensch und Affe.

Stefani Engelstein und Stefan Willer gehen im Gespräch auch gängigen psychoanalytischen Deutungen geschwisterlicher Beziehungen nach und stellen die verbreitete literaturwissenschaftliche Interpretation von Geschwistern als Ersatz für das gleichgeschlechtliche Elternteil auf den Prüfstand. Dabei wird die gängige Lesart von Ismenes Liebe zu ihrer Schwester Antigone als Hysterie und von Antigones Liebe zu ihrem Bruder Polyneikes als Heldentum einer kritischen Überprüfung unterzogen.

Im Austausch mit dem Übersetzer André Hansen und der Lektorin Gesa Steinbrink wird deutlich, wie sehr die Diskurse und Traditionen genealogischen Denkens selbst zeit-, orts- und sprachgebunden sind. Besonders deutlich wird das am Umgang mit dem englischen Begriff ›race‹ und seiner Übertragung ins Deutsche. Wie sollen wir mit Kategorien und Trennungen umgehen, die zwar auf menschliche Erfindungen zurückgehen und einer validen naturwissenschaftlichen Grundlage entbehren, aber dennoch das Verhalten und die Lebensgeschichten von Menschen prägen, zu Ungerechtigkeiten führen und reales Leid verursachen?

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Stefani Engelstein ist Professor of German Studies und Professor of Gender, Sexuality, and Feminist Studies an der Duke University. Sie war mehrfach zu Gast am ZfL, zuletzt von 2023–2024 als Guggenheim, Fulbright und National Endowment for the Humanities Fellow mit einem Projekt zu »Geschlecht und Gegensatz«. Ihr Buch »Sibling Action: The Genealogical Structure of Modernity« erschien 2017 auf Englisch und wurde 2024 von André Hansen ins Deutsche übersetzt. Stefan Willer ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2010–2018 war er stellvertretender Direktor des ZfL und forschte dort zuvor in verschiedenen Projekten zu den Konzepten von Generation und Genealogie, darunter »Erbe, Erbschaft, Vererbung. Überlieferungskonzepte zwischen Natur und Kultur im historischen Wandel«.

Das Gespräch wurde am 17.7.2024 im ZfL aufgezeichnet.

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Episode 22: Politik der Wahrnehmung

Oliver Precht spricht mit Katrin Trüstedt (beide ZfL) über sein Buch »Der rote Faden. Maurice Merleau-Ponty und die Politik der Wahrnehmung« (August Verlag 2023). Darin stellt er den französischen Philosophen und Phänomenologen als politischen Denker vor, von dessen Haltung zur eigenen Gegenwart wir einiges für den Umgang mit den großen Fragen unserer Zeit – von der Klimakrise bis zum Postfaktischen – lernen können.

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Maurice Merleau-Ponty (1908–1961) sah die Aufgabe der Philosophie nicht darin, ›ewige Fragen‹ zu wälzen, sondern sich im Hier und Jetzt zu verorten. Mit seinen Weggefährt*innen Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre, mit denen er 1945 die Zeitschrift »Les Temps Modernes« gründete, teilte er das Interesse an der Rolle des Intellektuellen im politischen Geschehen. Doch in der Frage des Engagements brach Merleau-Ponty mit Sartre, dem er vorwarf, sich von der historischen Situation zu unkritischen Parteinahmen hinreißen zu lassen, ohne eine kohärente Politik zu verfolgen. Demgegenüber pflegte Merleau-Ponty einen bedächtigeren Politikstil, der durch die ständige selbstkritische Hinterfragung der eigenen Position im jeweiligen historischen Kontext gekennzeichnet war.

Diese Haltung der aufmerksamen Wahrnehmung zieht sich als titelgebender roter Faden durch Merleau-Pontys Philosophie. Deren Aktualität verdankt sich Oliver Precht zufolge seinem Nachdenken über Politik und Gegenwart, das von Kritikfähigkeit und Offenheit für unvorhergesehene Begegnungen geprägt ist. Im Mittelpunkt steht dabei der Leib, der sich erst in der Begegnung mit der ihn umgebenden Welt und den sie bevölkernden Wesen ausbildet.

Durch den positiven Fokus auf den Leib unterscheidet sich Merleau-Pontys ›Politik der Wahrnehmung‹ von der aufklärerischen Pädagogik eines bestimmten Typs der Modernekritik, der besonders prominent von Bruno Latour vertreten wurde. Davon ausgehend, dass die Moderne von der Illusion einer starren Trennung von Natur und Kultur beherrscht wird, setzte Latour auf eine radikale Revolution des Denkens, die alle Verbindungen zur Moderne kappt. Merleau-Ponty hingegen spürte jenen Strömungen im modernen Denken nach, in denen diese Trennung bereits brüchig ist und liefert damit auch Anknüpfungspunkte für heutige Versuche, die marxistische Trennung der Sphären von Natur und Kultur zu reformieren. Einen solchen Versuch, den roten Faden wiederaufzunehmen und durch die Anknüpfung an moderne Klassenkämpfe weiterzuspinnen, unternahm in seinem gemeinsam mit Nikolai Schultz verfassten Memorandum »Zur Entstehung einer ökologischen Klasse« schließlich auch Latour und zeigte sich dadurch dem Denken Merleau-Pontys näher, als er selbst wohl zugegeben hätte.

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Der Philosoph Oliver Precht ist mit dem Projekt »Marx in Frankreich. Die Selbstbestimmung der französischen Theorie (1945–1995)« wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL. 2019 promovierte er mit einer Arbeit zur Selbst- und Fremdbestimmung von Heideggers Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Literaturwissenschaftlerin Katrin Trüstedt ist Ko-Leiterin des Programmbereichs Theoriegeschichte am ZfL und forscht dort zur »Politik des Erscheinens«. Zuvor war sie Assistant Professor of Germanic Languages & Literatures an der Yale University und Juniorprofessorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Erfurt.

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Episode 21: Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts

Falko Schmieder und Georg Toepfer (beide ZfL) sprechen über das Lexikon »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen«, das seit 2024 kontinuierlich im Open Access im Schwabe Verlag erscheint. Die Einträge analysieren politisch-soziale und kulturelle Schlüsselwörter des 20. Jahrhunderts aus der Perspektive verschiedener Disziplinen und ermöglichen es so, die Veränderungen kollektiver Einstellungen und politischer Anschauungen nachzuvollziehen.

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Wer über Begriffsgeschichte spricht, kommt um die »Geschichtlichen Grundbegriffe« nicht herum. Trat das maßgeblich vom Historiker Reinhart Koselleck verantwortete gleichnamige Lexikon noch mit dem Anspruch an, Großthesen wie die von der Sattelzeit um 1800 zu bestätigen, verfolgen Falko Schmieder und seine Mitherausgeber:innen einen offeneren Ansatz. Sie interessieren sich nicht mehr (nur) für den literarischen und theoretischen Höhenkamm, sondern vor allem für den populären politischen Sprachgebrauch und konsultieren vermehrt Alltagsmedien wie Zeitschriften.
Eine weitere Besonderheit des Lexikonprojekts ist seine Interdisziplinarität, die sich bereits an den drei beteiligten Instituten zeigt. Während am IDS in Mannheim Grundbegriffe großer Reichweite und Dauer wie Demokratie oder Kapitalismus in den Blick genommen werden, liegt der Fokus am ZZF in Potsdam auf Zeit- und Prozessbegriffen wie Fortschritt und Innovation. Diese hatten insbesondere in der politischen Umbruchszeit um 1970 Konjunktur, ebenso wie Netzwerk und weitere Begriffe aus dem Bereich der Computer- und Informationstechnologie. Im Zentrum der begriffsgeschichtlichen Forschung am ZfL stehen Begriffe wie Globalisierung, die neben einem veränderten Welt- und Zeitverhältnis auch eine Tendenz zur Verwissenschaftlichung der (politischen) Sprache anzeigen. So untersucht Georg Toepfer, wie sich Diversität im Laufe des 20. Jahrhunderts von einem biologischen Terminus zu einem normativen Konzept entwickelt hat, das aus gesellschaftspolitischen Debatten nicht mehr wegzudenken ist.
Solche Wanderbewegungen zwischen Disziplinen und Diskursdomänen zeichnen die Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts allgemein aus, wobei der Sprachgebrauch oft in Spannung zu den gewohnten historiografischen Periodisierungen steht. Die Untersuchung von im Nationalsozialismus bedeutsamen Begriffen legt auch deren teils weit zurückreichenden Vorgeschichten sowie ihren Fortbestand in der Nachkriegszeit offen. Aus heutiger Sicht erklärt die nationalsozialistische Vergangenheit außerdem einige Auslassungen in den »Geschichtlichen Grundbegriffen«. Dazu gehört der Begriff der Grenze, der zwar im 19. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielte, aber in der nationalsozialistischen Grund- und Bodenideologie und Ostpolitik zum Kampfbegriff geworden war.
Der rasante Bedeutungs- und Konjunkturwandel von Begriffen im 20. und 21. Jahrhundert wirft schließlich die Frage auf, ob es für eine Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts nicht zu früh ist, ihre Verfasser:innen nicht selbst noch zu gefangen in ihm sind. Hier zeigt sich der Vorteil der Begriffsgeschichte als quellengesättigter Wissenschaft. Denn die durch sie zutage geförderten Belegstellen sind auch unabhängig von der spezifischen Perspektive und Deutung, die ein Lexikoneintrag einnimmt, von historischem Wert. Eine quantitative wie qualitative Neuerung bringen dabei für die Begriffsgeschichte entwickelte digitale Werkzeuge, die es erlauben, in bislang unbekanntem Maß umfassende Textkorpora zu erschließen.

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Der Kulturwissenschaftler Falko Schmieder leitet das Schwerpunktprojekt »Das 20. Jahrhundert in Grundbegriffen« am ZfL. Er war zuvor u.a. wiss. Mitarbeiter im Projekt »Theorie und Konzept einer interdisziplinären Begriffsgeschichte«. Der Biologe und Philosoph Georg Toepfer ist Ko-Leiter des Programmbereichs Lebenswissen am ZfL und leitet dort die Projekte »Diversität. Begriffe, Paradigmen, Geschichte« und »Aitiologien in den Wirklichkeitserzählungen der Naturwissenschaften«.

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Episode 20: Schwarzes Europa, literaturwissenschaftlich

Gianna Zocco und Sandra Folie (beide ZfL) sprechen über den Band »Sketches of Black Europe in African and African Diasporic Narratives« (2024), der sich mit Imaginationen Europas in afrikanischer und afrodiasporischer Literatur und Kunst beschäftigt.

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Die Beiträge eint das Interesse an den Erzählperspektiven Schwarzer Künstler:innen und ihren Überlegungen darüber, was es heißt, europäisch zu sein. Untersucht werden literarische und filmische Werke von Künstler:innen, die auf geteilte Erfahrungen in und mit Europa verweisen. Der transnationale Charakter der Romane und Filme äußert sich dabei nicht nur in den Biographien ihrer Produzent:innen, sondern auch in den wiederkehrenden intertextuellen Bezügen auf kanonische Texte (von Toni Morrison über Frantz Fanon bis May Ayim) sowie einem gemeinsamen Repertoire von Themen, Metaphern und Motiven. Mittels einer dezidiert komparatistischen Betrachtung wird dabei sowohl die Beschränkung auf einzelne Nationalphilologien überwunden als auch die vorherrschende biographisch-soziologische Betrachtung der Werke vermieden. Vielmehr werden gemeinsame Darstellungsverfahren in den Vordergrund gestellt oder literaturgeschichtliche Bezüge sichtbar gemacht, wie es Mahamadou Famanta beispielsweise für Sharon Dodua Otoos Roman »Adas Raum« tut.

Der Rede von Europa liegt häufig die implizite Annahme eines ›weißen Kontinents‹ zugrunde. Die Perspektivierung ›Black Europe‹ hingegen erlaubt es den Beiträger:innen, Europa transkultureller und hybrider zu beschreiben und dabei etablierte Vorstellungen und Selbstbilder von Europa und seinem ›Anderen‹ infrage zu stellen. So beispielsweise Dobrota Pucherová, die autobiographische Texte von Tomáš Zmeškal und Obonete S. Ubam daraufhin untersucht, wie sie das im Kalten Krieg vorherrschende Narrativ der tschechischen Gesellschaft als frei von Rassismus erschüttern. Margriet van der Waal konzentriert sich stärker auf genuin sprachliche Fragen, indem sie sich mit der Hybridisierung des als ›europäisch‹ geltenden Afrikaans beschäftigt.

Zum Anspruch des Bandes gehört es außerdem, Perspektiven von den europäischen ›Rändern‹ und aus den Provinzen des Kontinents zu berücksichtigen. So untersucht Gianna Zocco, wie es James Baldwin und Vincent O. Carter mittels der literarischen Strategie der Blickumkehr gelingt, die Schweiz zu provinzialisieren. Sandra Folie wiederum analysiert, wie westafrikanische Juju-Rituale und die alpenländische Krampus-Tradition in Sudabeh Mortezais Film »Joy« durch den strategischen Einsatz exotisierender Darstellungsverfahren parallelisiert werden und somit letztlich an der vermeintlich festen Grenze zwischen Europäischem und Nichteuropäischem gerüttelt wird.

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Die Komparatistin Gianna Zocco leitet das ERC-Projekt »Schwarze Narrative transkultureller Aneignung: Literarische Akte des Konstruierens afro-europäischer Welten und der Infragestellung europäischer Grundlagen«. Von 2019 bis 2023 war sie mit dem Projekt »Deutschland und seine Geschichte in afroamerikanischer Literatur« Marie-Skłodowska-Curie Fellow am ZfL. Sandra Folie ist ebenfalls Komparatistin. Sie hat zu Labelingpraktiken neuer Welt-Frauen-Literaturen im transkontinentalen Vergleich promoviert und ist seit 2023 Mitarbeiterin im ERC-Projekt.

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Episode 19: Dokumentarische Ästhetiken

Matthias Schwartz (ZfL) und Clemens Günther (FU Berlin) sprechen über den Band »Documentary Aesthetics in the Long 1960s in Eastern Europe and Beyond« (Brill 2024). Sie betrachten literarische Formen wie Memoiren, Gerichtsprotokolle und Reiseberichte, aber auch das dokumentarische Theater, neue Spielarten des Dokumentarfilms und Konzeptkunst in Ost- und Westeuropa sowie den USA.

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Während in unserem ›postfaktischen‹ Zeitalter radikale Skepsis gegenüber den (sozialen) Medien herrscht, begeisterten sich in den 1960ern viele für die von neuen technischen Geräten wie der Handkamera gebotenen Möglichkeiten, die ›Wahrheit‹ einzufangen. In den Staaten Osteuropas stellten dokumentarische Schreibformen einen Bruch mit den totalisierenden Tendenzen des sozialistischen Realismus dar und erlaubten es, Zeugnis von der stalinistischen Gewaltherrschaft abzulegen, wie es Warlam Schalamow in seinen Schriften über den Gulag tat. Zeitgleich fand Peter Weiss mit seinem dokumentarischen Theater in Westdeutschland Wege zur Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.

Anders als häufig angenommen nahmen Künstler:innen in den sozialistischen Staaten regen Anteil an der globalen künstlerischen Entwicklung. Unter den Bedingungen des Tauwetters wurden Werke von Truman Capote, Weiss und anderen westlichen Schriftsteller:innen ins Polnische, Russische oder Tschechische übersetzt und die gemeinsame künstlerische Praxis reflektiert. Im Gegensatz zum Dokumentarismus der 1920er Jahre, der als ›literatura fakta‹ oder Neue Sachlichkeit programmatische Gestalt annahm, lassen sich die dokumentarischen Tendenzen der 1960er jedoch auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Während die avantgardistischen Vorläufer ein instrumentelles Verhältnis zum Dokumentarischen als Mittel zur Belehrung des Neuen Menschen pflegten, dominierte in den 1960ern ein Verständnis des Dokuments als Artefakt und Beweis, dem mit kritischer Distanz begegnet wurde. An dieser Ambivalenz des Dokumentarischen, das Objektivität verspricht und gleichzeitig Ergebnis und Mittel der politischen und künstlerischen Arbeit mit Fakten ist, zeigt sich sein Potential, die vermeintlich starre Opposition von Fakt und Fiktion ins Wanken zu bringen. So kommt etwa in der Autobiographie Aleksandra Brushteins und den Reportagen Ryszard Kapuścińskis allegorischen Erzählweisen dokumentarische Evidenz zu, da sie Möglichkeitsräume zur Verhandlung tabuisierter Aspekte der Gegenwart eröffnen.

Die Beschäftigung mit früheren Dokumentarismen macht die komplexen Genealogien heute vielerorts wieder zum Einsatz kommender dokumentarischer Verfahren sichtbar. Das gilt zum Beispiel für die in den 1960er Jahren diskutierte Frage nach den Möglichkeiten ästhetischen Ausdrucks und künstlerischer Intervention in autoritäre Regime des Sprechens und Verschweigens, so wie sie Alexijewitsch in ihrer dokumentarischen Prosa immer wieder vorgeführt hat. Diese Schreibverfahren bekommen derzeit in Ländern wie Russland oder Belarus wieder eine bedrückende Aktualität. In der zeitgenössischen ukrainischen Kunst sind es hingegen häufig dokumentarische Darstellungsweisen, mit denen traumatische Kriegsereignisse zur Sprache gebracht werden.

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Der Slawist und Historiker Matthias Schwartz ist Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur am ZfL. Dort leitet er die Projekte »Weltfiktionen post/sozialistisch. Literaturen und Kulturen aus Osteuropa« und »Anpassung und Radikalisierung. Dynamiken der Populärkultur(en) im östlichen Europa vor dem Krieg«. Der Slawist Clemens Günther ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Osteuropa-Institut der FU Berlin. Dort promovierte er 2019 mit einer Arbeit zu Problematisierungen historischer Erkenntnis in der russischen Gegenwartsliteratur. Er ist Mitglied im DFG-Netzwerk »Russian Ecospheres. Forms of Ecological Knowledge in Russian Literature, Culture and History«.

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Episode 18: Stellvertretung

Katrin Trüstedt spricht mit Oliver Precht (beide ZfL) über ihr Buch »Stellvertretung. Zur Szene der Person« (Konstanz University Press 2022). Entlang literarischer Beispiele beleuchten sie die Figur der Stellvertretung, die unser gesellschaftliches und politisches Leben prägt und in gegenwärtigen Debatten um die Rechte der Natur neue Aktualität gewinnt.

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Was heißt es, für andere zu sprechen und zu handeln – und was geschieht mit einem selbst, wenn andere für einen sprechen und handeln? Die Ambivalenz stellvertretenden Sprechens besteht darin, dass es bestimmten Stimmen und Geschichten oft überhaupt erst Gehör verschafft, aber auch die Gefahr der Bevormundung in sich birgt. Juristische und philosophische Betrachtungen neigen dazu, über diesen Widerspruch hinwegzusehen oder ihn einseitig aufzulösen. In der Literatur hingegen werden nicht nur die Paradoxien der politischen und rechtlichen Stellvertretung ausgelotet. Selbst auf Formen stellvertretender Rede angewiesen, reflektiert sie stets auch die eigenen Möglichkeiten, Figuren zum Sprechen zu bringen.

Paradigmatisches Beispiel dafür ist die »Orestie«, die Katrin Trüstedt als Urszene von Recht, Literatur und Theater und mithin der Stellvertretung selbst identifiziert. Die Ablösung der Gerechtigkeit der Rache durch die Gerechtigkeit des Rechts in Aischylos’ Tragödie wird oft als ein Ereignis der Emanzipation erzählt, bei dem sich der Mensch vor Gericht und auf dem Theater den anderen Menschen offenbart. Ein genauer Blick zeigt jedoch, dass der Held Orest auf göttlichen Beistand durch Apoll angewiesen ist, der in den entscheidenden Momenten Fürsprache leistet.

Diese antike rhetorische Kunst der Fürsprache oder Synegoria wird in der Neuzeit von der Stellvertretung als Wesenszug des Subjekts abgelöst. Spätestens seit Hobbes bedeutet ›Person sein‹ vertretbar sein durch den Leviathan. Während Stellvertretung somit einerseits zur Bedingung für das In-Erscheinung-Treten der Person wird, steht sie andererseits vermehrt im Verdacht, zu täuschen und zu verstellen. In Shakespeares »The Tempest« beispielsweise erfährt das Publikum die Geschichte in den Worten der Person, die zuvor diejenigen, von denen sie erzählt, gewaltsam unterjocht und versklavt hat.

Um 1800 erlangt die Frage, wer für wen spricht, schließlich handfeste juristische Bedeutung. Schriftliche Verhandlungen und Vernehmungen hinter verschlossenen Türen werden im Strafprozess vom unverstellten Sprechen vor dem Richter abgelöst. In der Literatur werden solch vermeintlich eindeutige Verfahren als scheinheilig entlarvt. Hoffte Schiller noch, durch die genaue Beobachtung von Gerichtsprozessen einen unverstellten Blick ins Menschenherz zu erhaschen, unterläuft der moderne Roman einen solchen Anspruch und die hinter ihm stehende Ideologie der Unmittelbarkeit. Die bereits von Kafka und Joyce aufgeworfene Frage, wer oder was im stellvertretenden Sprechen eigentlich vertreten wird, stellt sich letztlich in verschärfter Form, wenn politisch darüber verhandelt wird, wie für Akteure einzutreten ist, die nicht oder nur eingeschränkt für sich selbst sprechen und handeln können. Wer steht für die Interessen von Entrechteten, Staatenlosen und Geflüchteten ein? Und wer spricht für zukünftige Generationen, für die Umwelt und für Tiere?

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Die Literaturwissenschaftlerin Katrin Trüstedt ist Ko-Leiterin des Programmbereichs Theoriegeschichte am ZfL und forscht dort zur »Politik des Erscheinens«. Zuvor hatte sie Positionen als Assistant Professor of Germanic Languages & Literatures an der Yale University sowie als Juniorprofessorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Erfurt inne. Der Philosoph Oliver Precht ist mit dem Projekt »Marx in Frankreich. Die Selbstbestimmung der französischen Theorie (1945–1995)« wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZfL. 2019 promovierte er mit einer Arbeit zur Selbst- und Fremdbestimmung von Heideggers Philosophie an der Ludwig-Maximilians Universität München.

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Episode 17: Postdigitale Literatur

Hanna Hamel (ZfL) und Eva Stubenrauch (Humboldt-Universität zu Berlin) unterhalten sich über den Band »Wie postdigital schreiben? Neue Verfahren der Gegenwartsliteratur« (transcript 2023). Dabei sprechen sie unter anderem darüber, was das Postdigitale ist und welche historischen Vorläufer gegenwärtige Schreibverfahren haben.

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Die Gegenwartsliteratur wird häufig aus literatursoziologischer Perspektive untersucht. Richtet man den Fokus hingegen auf ihre Verfahren, können Phänomene erfasst werden, die sich den dominanten praxeologischen Zugriffen entziehen. Welchen Einfluss hat beispielsweise die praktisch-technische Vorentscheidung für das Schreibwerkzeug – Stift oder ChatGPT – auf die ästhetische Form? Hat das Digitale wirklich zu qualitativen Veränderungen im Schreibprozess geführt? Und wenn ja, was zeichnet unsere heutige postdigitale Situation aus?

Das Konzept des Postdigitalen stammt ursprünglich aus der elektronischen Musik und beschreibt die Situation nach der Digitalisierung, in der das Digitale alle Lebensbereiche erfasst hat. Aber handelt es sich dabei wirklich um einen radikalen Bruch mit dem Vorhergegangenen? Sicher ist, dass digitale Räume die Literatur vor neue Herausforderungen stellen, wenn beispielsweise über Plattformen wie Twitter Schreibende dem unmittelbaren Feedback durch ihre Leser*innen ausgesetzt sind. In den neuesten Diskussionen um Künstliche Intelligenz und die vermeintliche Konkurrenz zwischen Mensch und Maschine kehren gleichzeitig totgeglaubte Kategorien wie Autor und Werk in literaturwissenschaftliche und -kritische Diskurse zurück.

Unter dem Eindruck dieser Umwälzungen produziert die Literaturwissenschaft immer neue Ordnungsmodelle. Sie unterscheidet zwischen ›artifizieller‹ und ›postartifizieller‹ Literatur (Bajohr) oder solcher, die einer vermeintlich traditionellen Erzählweise verpflichtet bleibt, und solcher, die ihre eigenen Produktionsbedingungen ausstellt. Letzterer wird dabei schnell das Label der ›angemessenen Literatur für das 21. Jahrhundert‹ verpasst. Die Beiträge des Sammelbands hinterfragen vorschnelle normative Setzungen. Sie betrachten bestimmte Verfahren der Gegenwartsliteratur in ihrer historischen Entwicklung und stellen Verbindungen zu Vorläufern wie Schema- und Popliteratur her. Dabei zeigt sich unter anderem, dass die oft als Merkmal des Postdigitalen hervorgehobene Allianz zwischen Theoretisierung und Praxis der Literatur so neu nicht ist. Vielmehr zeichnen sich schon Literaturphänomene der Moderne wie die Konkrete Poesie oder avantgardistische ›Fehlerpoetiken‹ durch eine Reflexion auf die eigene Textualität und ihre medialen und technischen Einflüsse aus.

Metareflexive Tendenzen weist auch ein Genre auf, das selten der ambitionierten Literatur zugerechnet wird: die Fanfiction. Gerade die in Teilen der Community geführten Diskussionen um den Kanon sind jedoch höchst anschlussfähig für literaturwissenschaftliche Debatten. Stellt sich doch mit Blick auf die unendlichen genealogischen Schneisen, die sich in literarischen Texten ausmachen lassen, und ihre intertextuellen Bezüge die Frage, ob nicht die gesamte Literaturgeschichte als Fanfiction zu betrachten ist.

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Die Literaturwissenschaftlerin und Philosophin Hanna Hamel leitet das Projekt »Stadt, Land, Kiez. Nachbarschaften in der Berliner Gegenwartsliteratur« am ZfL. Von 2017 bis 2019 war sie mit dem Projekt »Klimatologien der beginnenden Moderne« Doktorandin am ZfL. Die Literaturwissenschaftlerin Eva Stubenrauch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie war von 2021–2023 mit dem Projekt »Die Einverleibung der Innovation. Theorie- und Literaturwissenschaftsgeschichte eines Strukturmoments (1870/1970)« wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZfL.

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Episode 16: Nach der Erinnerung

Matthias Schwartz (ZfL) und Heike Winkel (Bundeszentrale für politische Bildung) unterhalten sich über ihren gemeinsam mit Nina Weller (ZfL) herausgegebenen Band »After Memory. World War II in Contemporary Eastern European Literatures« (de Gruyter 2021). In ihrem Gespräch ergründen sie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Erinnerungskulturen in West- und Osteuropa.

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Um die Jahrtausendwende gab es einen regelrechten Boom der Erinnerungsliteratur, der von einer vertieften wissenschaftlichen Beschäftigung mit Gedächtnis und Erinnerung flankiert wurde. Ausgehend von den Gegebenheiten in Westeuropa etablierte sich der von Maurice Halbwachs geprägte Begriff des kollektiven Gedächtnisses. Aber lässt sich dieses Modell, das von einer ungebrochenen staatlichen und generationellen Kontinuität ausgeht, auf die postsozialistische Situation in Osteuropa übertragen? Diese kann in zweierlei Hinsicht als eine ›nach der Erinnerung‹ beschrieben werden, denn sie folgte auf die offizielle sozialistische Erinnerungskultur, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer ›Bruderstaaten‹ ein jähes Ende fand, sowie auf eine lange Zeit des verpassten innerfamiliären Gesprächs über die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs.

Anders als in Westeuropa, wo das Gedenken an den Holocaust im Zentrum der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg stand, überlagern sich in den osteuropäischen Erinnerungskulturen verschiedene Gegenstände der Erinnerung. Die Beschäftigung mit NS-Vernichtungskrieg einerseits und stalinistischer Gewaltherrschaft andererseits kreist dabei häufig um die Frage, was es heißt, Opfer beider Systeme zu sein. Während die US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin Marianne Hirsch für den westlichen Erinnerungsdiskurs eine nahezu ungebrochene affektive Identifikation als Opfer oder Nachkomme der Opfer des Zweiten Weltkriegs festgestellt hat, betont Ernst van Alphen in seinem Beitrag zum Sammelband die Unmöglichkeit einer positiven Identifikation mit der Rolle als Volksverräter, die den Opfern der Gulags vom Staat zugeschrieben wurde.

Immer wieder wird die Doppelrolle als Opfer und Täter verhandelt, die in Diskussionen wie um Stepan Bandera in der Ukraine oder die polnische »Heimatarmee« eine große Aktualität hat. In den Romanen von Radka Denemarková und Szczepan Twardoch beispielsweise widersetzen sich die gewöhnlichen Held*innen den von außen an die Literatur herangetragenen Forderungen, moralische Vorbilder zu liefern oder nationale Narrative zu bedienen. Ein umfassender Blick auf die literarische Landschaft Osteuropas zeigt allerdings auch, dass Literatur keineswegs immer ein Medium der kritischen Distanz ist. Mitunter wird sie im Sinne revisionistischer Aneignungen genutzt, um zu vereinfachen und nationalistische Diskurse mitzugestalten. Auf dem Gebiet der alternativen Geschichte und der Konstruktion heroischer Männlichkeiten ist diese Komplizenschaft im Falle Russlands heute besonders offensichtlich. Die in fast allen osteuropäischen Gesellschaften zunehmende nostalgische Verklärung der Vergangenheit und der eigenen Rolle im Zweiten Weltkrieg schließlich kann als Folge einer durch staatliche Zensur und gesellschaftliche Tabus verzerrten Erinnerung interpretiert werden, die die Vergangenheit leichter affektiv besetzbar und für politische Zwecke mobilisierbar macht.

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Die Slawistin Heike Winkel ist Referentin in der Projektgruppe Mittel-, Ost- und Südosteuropa bei der bpb. Zuvor arbeitete sie als Koordinatorin des Projekts »Sowjetische und deutsche Kriegsgefangene und Internierte« beim Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und war von 2004 bis 2016 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin. Der Slawist und Historiker Matthias Schwartz ist stellvertretender Direktor des ZfL und Ko-Leiter des Programmbereichs Weltliteratur. Dort leitet er die Projekte »Weltfiktionen post/sozialistisch« und »Anpassung und Radikalisierung«.

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